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Prof. Kaiser bei den Aufnahmen zum Podcast (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdebirg)
10.05.2021 aus 
Forschung + Transfer
Warum möchten wir die Wahl haben?

Wer die Wahl hat, hat die Qual. Das erleben wir in vielen Momenten unseres Alltags: an der Käsetheke im Supermarkt, beim Kauf eines neuen Autos oder bald auch wieder an der Wahlurne bei der Land- und Bundestagswahl - es gibt bei allem Auswahl im Überfluss. Können wir uns da eigentlich noch entscheiden? Und wollen wir das überhaupt? Prof. Florian Kaiser ist Psychologe und erklärt in der neuen Folge von "Wissen, wann du willst", warum wir die Entscheidung zwischen den vielen grauen Mäusen einfach per Münzwurf treffen können, warum wir trotzig werden, wenn wir keine Wahl haben und was es bedeuten könnte, wenn die Beteiligung an politischen Wahlen gering ist.

Heute zu Gast

Florian Kaiser ist Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er erforscht unter anderem die individuelle Einstellung und deren Veränderungen sowie die Verhaltenssteuerung und die evidenz-basierte Politikunterstützung. Thematisch fokussiert sich Prof. Kaiser vor allem auf Umweltschutz, Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung, Stress und Gesundheit. Sein Wissen gibt er an Studierende unter anderem in Vorlesungen zur differentiellen und Persönlichkeitspsychologie sowie im Grundlagenmodul Umweltpsychologie weiter.

Dr. Kaiser promovierte 1992 an der Universität Bern (Schweiz) und habilitierte 1999 an der Universität Zürich (Schweiz). Von 1994 bis 1996 war er post-graduierter Stipendiat des Schweizer Nationalfonds an der University of California, Berkeley, und von 1996 bis 1997 an der Universität Trier. Von 1998 bis 2000 war Dr. Kaiser Assistenzprofessor für Mensch-Umwelt-Beziehungen an der Eidgenössisch Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Von 2000 bis 2008 war er Assoziierter Professor für Sozial- und Umweltpsychologie an der Technischen Universität Eindhoven in Eindhoven, Niederlande.

 

 

Der Podcast zum Nachlesen


Introstimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.



Ina Götze: Wir treffen jeden Tag unzählige Entscheidungen – was wir am Morgen anziehen, ob es Nudeln mit Sahnesoße oder vielleicht doch lieber den gesunden Salat zum Mittag gibt und was wir dann am Abend auf Netflix schauen. Solche kleinen Abwägungen fallen uns in der Regel ja ganz leicht. Es sind eher die großen Entscheidungen, mit denen wir uns hin und wieder dann doch etwas schwertun, zum Beispiel auch, welche Partei wir wählen. Mit unserem Psychologen Professor Florian Kaiser habe ich mich darum mal darüber unterhalten, warum uns eigentlich einige Entscheidungen so schwer fallen, ob Menschen, die nicht wählen gehen, vielleicht unsozial sind und warum wir uns dann beispielsweise doch komplett anders entscheiden, als wir es normalerweise tun. Mein Name ist Ina Götze, ich bin Web-Redakteurin in der Pressestelle der Uni Magdeburg, und ich begrüße Sie zu unserer 7. Folge „Wissen, wann du willst.“ Herzlich willkommen Herr Professor Kaiser.

Prof. Florian Kaiser: Schön guten Tag Frau Götze.

Ina Götze: Wer die Wahl hat, hat die Qual, heißt es ja redensartlich. Was ist da dran? Mögen wir Menschen es denn überhaupt, die Wahl zu haben oder hätten wir sie lieber nicht?

Prof. Florian Kaiser: Grundsätzlich kann man das leicht beantworten: In der Regel wollen wir die Wahl. Das ist sozusagen der Kernpunkt. Wenn wir keine Wahl haben, fühlen wir uns genötigt, gedrängt, in die Ecke gedrängt und wir suchen nach Wegen, diesen Kontrollverlust zurückzugewinnen. Und sei das nur darin, zu trotzen und nein zu sagen.

Ina Götze: Die kleinen Kinder, die sich dann im Supermarkt auf den Boden werfen.

Prof. Florian Kaiser: Genau. Hat sogar einen Fachausdruck: Das nennt sich ‚Reaktanz‘.

Ina Götze: Ok. Jetzt stehen uns ja in ganz vielen Bereichen ganz viele Wahlmöglichkeiten offen: Im Supermarkt gibt es unzählige Käsesorten. Wir können normalerweise hinreisen, wohin wir möchten. Wir können uns beruflich frei entfalten. Tut es uns denn überhaupt gut, so viele Wahlmöglichkeiten zu haben oder ist das eigentlich schon zu viel?

Prof. Florian Kaiser: Auf welcher Dimension: gut? Meinen Sie Zeitverlust? Die Schwierigkeit, uns zu entscheiden? Bringt es uns in Schwierigkeiten in Hinsicht auf Stress? Was meinen Sie mit: Tut es uns gut?

Ina Götze: Tut es uns … also, dass wir uns überhaupt noch entscheiden können.

Prof. Florian Kaiser: Ich glaube, es fällt uns zunehmend schwer, uns zu entscheiden. Und da gebe ich Ihnen recht. Aber der Fehler liegt, glaube ich, nicht in der Entscheidungsmöglichkeit, sondern in den Attributen, also was wir alles mit der Entscheidung verbinden. Also man kann das leicht runter brechen. Die meisten unserer Entscheidungen sind eigentlich vollständig überfrachtet und unlösbar. Wenn ich beispielsweise Erdnussbutter kaufen will, dann ist es eine bestimmte Geschmacksrichtung, ein bestimmter Zweck, den ich damit befriedigen möchte. Und dann ist die Entscheidung eigentlich relativ einfach. Ich gehe in den Laden und suche Erdnussbutter. Jetzt bin ich konfrontiert mit fünf …

Ina Götze: (lacht) … mit Stückchen, ohne Stückchen …

Prof. Florian Kaiser: Genau.

Ina Götze: … ohne Zucker, mit Zucker …

Prof. Florian Kaiser: Genau. Und jetzt kommt quasi die Frage, soll es eine eher gesunde sein, soll es eine noch zusätzlich mit Zucker angereicherte, soll es noch zusätzlich Fettstoffe, soll es möglichst eine reine ‚peanutbutter‘ sein. Und genau das macht das Problem eben aus. Es kommen sozusagen Nebenschauplätze mit in die Entscheidung rein, die eigentlich nicht zur Entscheidung beitragen – will ich Erdnussbutter oder nicht. Wenn es nämlich nur fünf verschiedene Erdnussbutter gäbe, könnte ich da stehen und sagen, ich nehme irgendeine. Und ich greif’ dann zu. Also diese Nebenschauplätze – soll es eine ökologisch angebaute Erdnuss sein, soll es eine sozial verträgliche sein, der Preis muss möglichst stimmen –, die machen eine Entscheidung sozusagen mehrdimensional. Also man will dann mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und das ist in der Regel unmöglich.

Ina Götze: Hmm, das heißt, auch die kleinen Entscheidungen werden zunehmend schwerer. Ich erinnere mich tatsächlich daran: Ich war vor zwei Jahren in Kanada und in dem einen Supermarkt war eine Regalreihe, meterlang voll von oben bis unten mit ganz verschiedenen Chip-Sorten. Ich wollte keine Chips, Gott sei Dank –, ich hätte wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen gebraucht, um mich dann für eine Chip-Sorte zu entscheiden.

Prof. Florian Kaiser: Genau.

Ina Götze: Ich persönlich bin aber auch eher der Typ, der Entscheidungen gerne abwägt und dann auch noch mal Freunde fragt. Ist das Teil meiner Persönlichkeit? Also liegt das daran oder hat meine Persönlichkeit gar nichts damit zu tun, wie gut ich Entscheidungen treffen kann?

Prof. Florian Kaiser: Persönlichkeit könnte natürlich etwas damit zu tun haben, also wie entscheidungsfreudig jemand ist, aber gleichzeitig würde ich es wahrscheinlich eher auf die Situation… Es kommt darauf an, wie viel von der Entscheidung abhängt, also quasi: Was sind die Konsequenzen einer falschen Entscheidung? Und je dramatischer ich diese Konsequenzen einer falschen Entscheidung einschätze, um so schwieriger fällt es mir natürlich – wenn es um Geldverluste geht in einer namenhaften Größenordnung oder um eine Entscheidung auf Leben und Tod. Natürlich wird dann sozusagen die Entscheidung sehr umfangreich ausfallen. Da möchte ich dann alle Eventualitäten mitberücksichtigen. Also ich glaube, es geht an der Stelle sehr stark darum: Worüber wird entschieden? Ich glaube eher eine Frage der Persönlichkeit ist es, wenn man auch kleine Entscheidungen wie solch dramatische Entscheidungen behandelt.

Ina Götze: Bei den Chips wäre es so gewesen, denn hätte ich die falschen Chips ausgewählt, das wäre dramatisch gewesen, hätten die dann nicht geschmeckt … (lacht)

Prof. Florian Kaiser: (lacht) Genau das wäre das Problem, wenn man die Frage der richtigen Chips zu einem Grundsatzproblem macht, dann ist man wahrscheinlich nicht sehr entscheidungsfreudig und dann ist das eigentlich eher problematisch.

Ina Götze: In diesem Jahr dürfen wir gleich zwei große politische Entscheidung treffen. Es ist nämlich Superwahljahr: Im Juni wird der Landtag in Sachsen-Anhalt neu gewählt und im September dann der Bundestag. Da wir gerade bei Persönlichkeitsmerkmalen sind: Menschen, die nicht wählen gehen, sind die unsozial?

Prof. Florian Kaiser: Die sind nicht unsozial, die sind streng genommen eigentlich vernünftig.

Ina Götze: Jetzt bin ich gespannt. (lacht)

Prof. Florian Kaiser: In der Regel ist es so, dass hier die einzelne Entscheidung überhaupt kein Gewicht hat bei Wahlen. Und von daher ist das Wählen selber eigentlich eine aufwändige Aktion: Ich muss irgendwo hin gehen. Ich muss dran denken, es rechtzeitig zu tun. Vielleicht muss ich sogar Porto bezahlen – tut mir leid, ich weiß nicht, ob das in Deutschland automatisch mit einbezogen ist bei der Briefwahl oder ob man das selber bezahlen muss. Also man hat Aufwand mit der Stimmabgabe, man muss zumindest zum Briefkasten gehen. Und dieser Aufwand ist eigentlich mit nichts zu rechtfertigen. Wenn ich eine Stimme von 20 Millionen bin, also wenn man auf die Bundestagswahl hochrechnet, hat meine einzelne Stimme kaum Gewicht. Und unter diesem Gesichtspunkt ist es eigentlich nahezu unvernünftig.
Und wenn man auch von der Konsequenz ausgeht: Wenn man sagt, ok, ich werde wählen gehen und wer wird wahrscheinlicher Sieger der Wahl? Das ist eine der großen Parteien. Ok. Was ändert sich für mich? Recht wenig. Unter diesem Gesichtspunkt auch wieder: Weshalb sollte ich den Aufwand auf mich nehmen? Das ist sozusagen die ein Schiene. Natürlich ist dann eine Komponente, wo Sie mit Ihrer Frage hinzielen: Ist es unsozial ... wenn wir das Wählen als einen Akt in einer Gemeinschaft verstehen, haben Sie natürlich recht. Wir alle sind diese Gemeinschaft und durch das Ablehnen des Zurwahlgehens ziehe ich mich aus der Gemeinschaft heraus. Ich sehe mich dann nicht als Teil, der Verantwortung trägt für die Gemeinschaft und das ist natürlich als Symbol wiederum fatal für das, was die Wahl bedeutet.

Ina Götze: Also für jeden Einzelnen kann ich Ihre Argumentation nachvollziehen, für die Gemeinschaft aber eben auch: Zu sagen, wenn jeder seine Stimme nutzen würde, dann hätte es ja schon einen Einfluss …

Prof. Florian Kaiser: Genau. Ich glaube man muss genau diese beiden Motive beim Wählen mitberücksichtigen. Auf der einen Seite kann es ein Selbstinteresse sein, nicht zu wählen; auf der anderen Seite, wenn ich diesem Selbstinteresse nachgebe, mache ich ein klares Statement, dass mir dieses Kollektiv gleichgültig ist und dass ich nicht bereit bin, etwas dafür zu tun. Und das ist halt beides in der Wahl impliziert.

Ina Götze: Jetzt wird ja vor allem jungen Wähler:innen nachgesagt, dass sie politikverdrossen sind. Ist das so? Also haben wirklich Alter und Geschlecht Einfluss darauf, ob ich wählen gehe?

Prof. Florian Kaiser: Ich kann das nicht mit Zahlen belegen, aber ich vermute natürlich schon, gerade das Alter spielt eine Rolle. Also das kann man sich ja auch relativ leicht vorstellen, wenn man sich überlegt, wie lange man gebraucht hat, die politischen Ziele und Strategien der verschiedenen Parteien auseinander zu halten. Und gerade in jungen Jahren war es bei mir sicher so, hat es mich nicht so interessiert, dieses Wissen zu erwerben. Ich habe wahrscheinlich auch nicht regelmäßig Nachrichten gehört oder geschaut und habe dadurch eigentlich gar nicht so klar verorten können wer was politisch anstrebt. Und unter dem Strich, wenn man dann 20 Jahre in einem Land gelebt hat, in dem ganz egal ist, wer an der Regierung ist – in welchem Bundesland oder im Bund –, es plätschert so dahin, da ist dann die Entscheidung letztendlich die Wahl zwischen unterschiedlich grauen Mäusen, weil es nicht mehr um Schwarz- oder Weiß-Entscheidungen geht, sondern um unterschiedliche Grautöne. Und gerade in jungen Jahren ist eine solche Entscheidung, finde ich, nicht sehr prickelnd. Also von daher würde ich auch vermuten, dass gerade junge Leute eher sagen, weshalb soll ich da wählen gehen? Es geht ja um etwas, ob das jetzt ein bisschen hellgrau oder ein bisschen dunkelgrau ist, spielt mir doch eigentlich keine Rolle. Aber ich möchte den jungen Leuten nicht alles Mögliche in die Schuhe schieben. Es gibt sicher auch hochgradig Interessierte. Ich meine, das waren Stereotypen, gebe ich gern zu.

Ina Götze: In Ostdeutschland sind es ja eher die älteren Menschen, die sagen: Ach warum soll ich wählen gehen? Sich zum Teil auch die DDR zurückwünschen. Liegt es daran, dass sie in diesem System groß geworden sind, in dem sie eben wenig Wahlmöglichkeiten hatten und jetzt mit dieser Freiheit, die sie haben, vielleicht nicht umgehen können?

Prof. Florian Kaiser: Oder vielleicht empfinden sie die Wahl gar nicht als eine Wahl. Ähnlich wie ich das vorhin für junge Leute beschrieben habe, kann man das vielleicht auch für Leute, die ein politisches System nicht kennen und es plötzlich eben nicht mehr um Weiß-Schwarz-Entscheidung, Klassenfeind oder Klassenfreund geht, sondern letztendlich unterschiedliche Gewichtungen des sozialen Ausgleichs, sozialer Gerechtigkeitsideen, unterschiedlicher Gewichtungen der Wirtschaftsförderung – aber letztendlich um die gleichen Parameter, die man optimieren will, aber mit unterschiedlichen Gewichten. Vielleicht erscheint Leuten dann die Wahl als eben eine Wahl zwischen Grautönen. Und was ich bei den jungen Leuten gesagt habe, gilt vielleicht auch für Menschen, die noch jung in solchen Verhältnissen leben.

Ina Götze: Der ein oder andere wird es vielleicht mitbekommen haben, das Corona-Virus hat ja unseren Alltag so ein bisschen beeinflusst (lacht). Eine Entscheidung müssen wir weniger treffen, nämlich die, wohin wir in den Urlaub fahren. Das ist ja schon mal was, aber wird die Pandemie auch unser Wahlverhalten beeinflussen?

Prof. Florian Kaiser: Da würde ich sagen, warten wir mal die Entscheidung oder die Situation, die Ereignisse relativ kurz vor der Wahl ab, weil: Ich vermute schon, dass so etwas wie – in der Fachsprache heißt das ‚recency effekt‘ –, also was kürzlich passiert ist, halte ich für hochgradig relevant. Also, was werden die Ereignisse kurz vor den Wahlen sein, die das Leben, die die Nachrichten bestimmen und das könnte es in der Regel dann auch für viele Leute entscheiden, wen sie wählen. Wer also gerade positiv rüberkommt, wer also offensichtlich mit Kompetenzerwartung positiv ausgestattet ist, das sind dann die Parteien, die Personen, die man dann auch bevorzugen wird. Also es kommt glaube ich sehr auf die Tagesaktualität an. Das wäre meine Einschätzung.

Ina Götze: Wir entscheiden also relativ spontan dann auch noch kurz vorher, wen wir … wen wir wählen?

Prof. Florian Kaiser: Ja, eben genau das wäre ja wiederum meine Antwort auf die Einstiegsbemerkung, wie wichtig sind uns diese Wahlen. Wenn sie uns wirklich so wichtig wären, würden wir uns wahrscheinlich mehr um Parteiprogramme, um Wissensakquise, was wollen die eigentlich, wer ist das eigentlich – die Wenigsten von uns setzen sich wahrscheinlich mit einer sehr aufwendigen Strategie hin, um zu entscheiden, für wen sie bei der Wahl dann einstehen oder ihr Kreuz machen. Und das ist, glaube ich, die Krux dabei. Für die Meisten von uns ist das eine ziemlich niederschwellige Entscheidung, die für uns kaum Relevanz für den Alltag zu haben scheint.

Ina Götze: Sieht man ja zum Beispiel auch in Amerika. Da gibt es eben schwarz und weiß, da ist der Wahlkampf aufgeheizt ohne Ende, da gibt es die zwei Lager, die sich dann da irgendwie ... das ist in Deutschland tatsächlich nicht so. Die einzige schwarze Maus ist momentan letztendlich die AfD und die anderen grauen Mäuse versuchen da irgendwie gegen anzuhalten, so könnte man es doch gut vergleichen.

Prof. Florian Kaiser: Das würde ich auch so sehen und die schwarze Maus will ja letztendlich ... hat ja nicht ein Programm, um die Demokratie besser zu machen, sondern ihr Gegenangebot ist: ,Ihr solltet den Scheiß doch einfach lassen!‘ Und ob das wirklich für die meisten attraktiv ist, das bezweifele ich. Mir ist das nach wie vor ein bisschen ein Rätsel, weshalb sie so viele Stimmen im Osten kriegen.

Ina Götze: Ist wahrscheinlich das Kind, das sich dann auf den Boden wirft und strampelt.

Prof. Florian Kaiser: Vermutlich hat es etwas mit dieser Reaktanz zu tun, die ich am Anfang erwähnt habe. Wenn man das Gefühl hat: Na ja, wenn die Parteien an der Macht sind, ändert sich ohnehin nichts Wesentliches, dann lieber gleich Nein sagen und eben die Nein-Partei wählen.

Ina Götze: Ja, auch nicht die Lösung. Für mich ist Demokratie auch ein Privileg. Das haben sich Generationen vor uns erkämpft, auch, dass ich zum Beispiel überhaupt wählen darf. Darum nutze ich meine auch ach so kleine Stimme und tue es! Warum hat sich aber das ... also die Einstellung gegenüber Wahlen in den letzten 20 Jahren so verändert?

Prof. Florian Kaiser: Ich glaube da gibt es zwei Antworten drauf. Das eine ist: Das Privileg wird nicht mehr als Privileg erlebt, also wenn man eigentlich in einer Welt groß geworden ist – ich meine, ich bin mittlerweile über 60, ich bin in einer Demokratie groß geworden. Es war nichts anderes als eine Demokratie, so war es halt immer. Man gewöhnt sich dran. Das ist halt auch zutiefst menschlich, wenn man immer genug von allen hat, gewöhnt man sich ans Genug von allem Haben. Und ähnlich ist es ein bisschen mit einem Privileg, das man nicht mehr als Privileg erkennt. Das ist sozusagen die eine Antwort auf Ihre Frage.
Die zweite Antwort hat etwas mit dem Privileg selber zu tun. Ich finde das Privileg ist natürlich ein bisschen ausgedünnt, würde ich das mal nennen. Weil das Privileg besteht nicht mehr darin, dass ich eine Entscheidung über einen Sachverhalt fällen darf, sondern ... also beispielsweise ob die Steuern erhöht werden, ob wir der EU beitreten oder aus der EU austreten, ob ein neues Infektionsschutzgesetz ins Leben gerufen werden soll oder nicht. Ich habe kein Mitspracherecht an Sachentscheidungen, somit habe ich auch keine Macht über das, was hier entschieden wird. Stattdessen habe ich nur noch die Entscheidung, meine Macht an jemanden zu delegieren, der dann für mich entscheidet. Zu einem Zeitpunkt, wo ich nicht weiß, ob er oder sie diese Entscheidung in meinem Sinn abgeben wird und gleichzeitig weiß ich auch, dass diese Person nicht nur gegenüber mir, dem Wähler, loyal sein muss, sondern auch gegenüber der Institution, die ihn wählbar gemacht hat. Das sind dann natürlich die Parteien und das dünnt natürlich mein Privileg massiv aus.

Ina Götze: Würden Bürgerabstimmungen da vielleicht Abhilfe schaffen? Dass man das Privileg wieder mehr als Privileg ... also dass, wenn zum Beispiel die Entscheidung ansteht: Steuererhöhung – Ja oder Nein? –, dass die Bevölkerung abstimmen darf?

Prof. Florian Kaiser: Ich glaube, es würde in Deutschland im Moment relativ viel verändern, was die Politikverdrossenheit anbelangt, dass man nicht mehr sagen: Die machen ja immer was sie wollen. Also man könnte die politische Entscheidung nicht mehr von sich wegweisen, sondern es war eine Mehrheitsentscheidung. Gut, wir können dann sagen: Die Mehrheit in Deutschland ist halt dumm, wenn eine bestimmte Entscheidung ... Aber wir können nicht mehr sagen: Die politische Elite entscheidet für uns. Also, wir könnten die Entscheidung nicht mehr von uns fernhalten. Ich glaube, langfristig würde es nicht gegen die Politikverdrossenheit arbeiten. Also wenn ich das mit der Schweiz vergleiche, wo eben Wahl- und Abstimmungsteilnahmen in dem manchmal tiefen 30 Prozent-Anteilen liegen und manchmal in den hohen 30 Prozent-Anteilen, dann würde ich sagen: Die Partizipation an der Demokratie wird das wahrscheinlich langfristig nicht erhöhen, aber gleichzeitig muss man auch sagen: Ist das wirklich ein schlechtes Zeichen, wenn sich 100 Prozent von 30 Prozent Wahlverhalten gut vertreten fühlen?

Ina Götze: Sie meinen also, wenn nur 30 Prozent wählen gehen, dann sind die anderen 70 Prozent eigentlich ganz zufrieden ...

Prof. Florian Kaiser: Offensichtlich. Die Mehrheit scheint nichts dagegen zu haben, sonst würden sie ja ein Schwarz-Weiß erkennen, bei dem sie auch teilnehmen möchten.

Ina Götze: Interessante These! Könnten denn Parteien und Medien Einfluss darauf nehmen, dass wir wieder gerne die Wahl haben?

Prof. Florian Kaiser: Ich glaube schon! Wenn die Politik bereit wäre, die Macht tatsächlich mit der Bevölkerung zu teilen, wenn man wirklich nicht nur Partizipation versteht, dass man über etwas redet, sondern, dass man Entscheidungsmacht weitergibt – und das ist letztendlich, was eine direkte Demokratie ist. Die Entscheidungsmacht tatsächlich nach unten zu delegieren. Auch wenn die Entscheidung dann nicht sehr sophistiziert ist, also um Details geht, sondern eine Ja-Nein-Entscheidung wäre. Also alles muss in eine Ja-Nein-Entscheidung runtergebrochen werden.

Ina Götze: Kommen wir nochmal zurück zum Persönlichkeitsmerkmal. Entscheidet meine Persönlichkeit auch darüber, welche Partei ich wähle? Also ob ich eher rot, grün, bunt, lila wähle?

Prof. Florian Kaiser: Na ja, hier kann ich natürlich einen Ausspruch, der Winston Churchill zugewiesen wird, wiedergeben: ‚Mit 25 ist man ein Liberaler, mit 35 ist man konservativ.‘ Und ich glaube diese Offenheit für Neues, für Gerechtigkeitsideen hat wahrscheinlich schon etwas mit Idealismus zu tun und Churchill hat das mit jungen Jahren verknüpft, gleichzeitig, was da auch noch drinsteckt, war ja: Wer mit 25 kein Liberaler ist, hat kein Herz und wer mit 35 kein Konservativer ist, hat kein Hirn. Um das Zitat noch völlig weiter zu spinnen muss man sagen: Wahrscheinlich gibt es eben Leute, die eher herzgesteuert sind und für soziale Gerechtigkeit wählen würden und das als das zentrale Thema sehen und dann gibt es andere, die immer wieder die rationale Frage stellen: Und wer soll das bezahlen? Und dann ist man relativ schnell bei eher konservativen Ideen. Und ähnlich würde ich mir das halt auch mit der Persönlichkeit vorstellen. Es gibt natürlich mehr oder weniger prosozialdenkende Menschen, und es gibt dann halt auch immer wieder sehr rationalistisch und vernunftorientierte ... und Vernunft heißt hier nur an den Konsequenzen orientiertes Denken. Das ist in keiner Weise anders wertend gemeint. Also: ,Kann man das bezahlen?‘ ist eine klassische Vernunftfrage.

Ina Götze: Bei den letzten Wahlen haben wir ja vor allem mitbekommen, wie schnell sich Menschen dann doch für eine andere Partei entscheiden können. Wenn wir eher Herz oder Kopf gesteuert sind, warum wählen wir ... also warum werden wir zu Wechselwählern? Wir haben uns ja an sich nicht verändert.

Prof. Florian Kaiser: Sagen wir mal, beide Komponenten sind Teil unserer Seele, oder? Auf der einen Seite haben wir Mitgefühl, auf der anderen Seite fragen wir uns, was liegt für uns persönlich drin. Und genau diese beiden Seelen werden unsere Entscheidung beeinflussen und zwar in Kombination mit dem Thema, was gerade aktuell ist. Wenn im Herbst beispielsweise dann die Frage aufkommt, unsere Staatsschulden führen zu Inflation und diese Inflationsängste riesengroß sind, dann werden wahrscheinlich hier eher diese Selbstinteressenreflexe nach vorne kommen, als diese eher Fürsorglichkeitsaspekte.

Ina Götze: Jetzt kennen wir ja alle den Spruch unserer Eltern: ,Wenn der Florian von der Brücke springt, dann springst du doch auch nicht hinterher.‘ Ist das so? Oder hat unser soziales Umfeld doch Einfluss darauf, wen wir wählen? Also ob wir von der Brücke springen oder nicht.

Prof. Florian Kaiser: Auch beim Beispiel der Brücke würde ich sagen, wenn Florian springt, dann kann Hans sich nicht leisten nicht zu springen. Also sozialer Druck ist real, das ist die eine Schiene. Das heißt, wenn die Mehrheit etwas tut und gerade wenn mein Verhalten auch beobachtbar ist, also bei den Wahlen ist es ja so, das ist im Geheimen. Aber wenn ich quasi meine Meinung zu verschiedenen politischen Parteien äußern muss und die anderen hören mich, dann werde ich mir zweimal überlegen, ob ich in einem Verein, der eher sozialdemokratisch orientiert ist wirklich die AfD loben werde. Natürlich hat die soziale Gruppe einen Einfluss darauf was ich tue, vor allem im öffentlichen Raum. Wenn es eben öffentlich erkennbar ist. Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass die Öffentlichkeit, mit der ich mich auseinandersetze, natürlich eine Auswahl der gesamten Öffentlichkeit ist. Also meine Freunde sind auch eher ähnlich gepolt wie ich es bin. Also, wenn ich persönlich eher die freiheitlichen Demokraten gut finde und deren liberale Grundhaltung lobe, werde ich wahrscheinlich auch eher einen Freundeskreis um mich scharren, der ähnlich eine liberale Grundhaltung positiv bewertet und entsprechend ist es dann auch zu erwarten, dass das Wahlverhalten in meinem Freundeskreis recht ähnlich meinem eigenen Wahlverhalten ist. Also es gibt so eine Wechselwirkung. Auf der einen Seite, natürlich tun wir auch, was die anderen von uns erwarten, auf der anderen Seite sind die anderen, die etwas erwarten schon eine bestimmte Auswahl von den Leuten ... von der Gesamtheit der Leute.

Ina Götze: Ich bin auch gerade meinen Freundeskreis durchgegangen und da wäre tatsächlich auch niemand dabei, mit dem ich mich über Politik streiten würde, also natürlich hat man Diskussionsthemen, aber in der Grundgesamtheit ticken wir da recht ähnlich. Das stimmt. Zum Abschluss noch eine persönliche Frage. Mit all Ihrem Wissen: Fällt es Ihnen denn leicht, selber Entscheidungen zu treffen und wenn ja, welchen Tipp haben Sie für unsere Hörer:innen?

Prof. Florian Kaiser: Ich glaube, mir ist es bisher recht einfach gefallen, mich zu entscheiden. Das Wichtigste, würde ich sagen, ist die Entscheidung runterbrechen, auf das worüber ich wirklich entscheiden möchte. Also, wenn ich mir beispielsweise ein Fahrzeug kaufen will, ist die Grundsatzentscheidung wahrscheinlich: Was muss es können? Und ein Auto kann in der Regel bestimmte Dinge, die ein Fahrrad nicht kann. Wenn ich mich mal auf´s Auto festgelegt habe, dass es so etwas sein muss, weil ich auch längere Distanzen mit Gewicht überbrücken muss, ist die nächste Frage wahrscheinlich: Wie teuer darf es sein? Und dann habe ich eigentlich eine relativ einfache Auswahl zwischen wahrscheinlich ungefähr 15 Produkten, die im Preis-Leistungsverhältnis vergleichbar sind. Und dann kann ich eigentlich auch einen Münzwurf ansetzen. Also in meinem Fall war der Autokauf immer gekoppelt mit dem sozialen Erwartungsdruck beispielsweise. Ich wohne in der Nähe von Wolfsburg, da ein Auto zu kaufen, dass nicht zu der Volkswagenfamilie gehört, das wäre ein Affront gegen meine Nachbarn gewesen. Also seit wir in der Gegend wohnen, ist es eigentlich immer irgendein Fahrzeug aus der Volkswagenfamilie.

Ina Götze: Ok! Also dem Druck vielleicht auch einfach mal nicht nachgeben oder ist das auch in Ordnung?

Prof. Florian Kaiser: Das ... warum sollte man dem nicht nachgeben? Weil ich meine, die meisten meiner Nachbarn arbeiten bei Volkswagen, wenn ich ... warum sollte ich mich überhaupt verteidigen wollen, welches Auto ich kaufe? Die machen ja keine schlechten Autos, zumindest nicht viel schlechtere als andere Firmen, also kann ich dann damit auch meine Nachbarn noch freundlich stimmen.

Ina Götze: Sehr schön! Also wir lernen: Einfach mal runterbrechen, dann die Münze werfen und die Nachbarn glücklich machen. So trifft man hier Entscheidungen. Sehr schön! Vielen, vielen Dank, dass Sie da waren, dass Sie Ihr Wissen mit uns geteilt haben. Eine wichtige ... oder eine gute Entscheidung haben unsere Hörer:innen schon getroffen, sie haben diesen Podcast gehört! Das ist ja immerhin schon mal was. Es hat mich sehr gefreut, dass Sie da waren. Vielen, vielen Dank auch fürs Zuhören, und ich freue mich auf die nächste Folge.

 

Introstimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.