DE
22.07.2022 aus 
Forschung + Transfer
Braucht die Jugend ein Anti-Ego-Jahr?

Deutschland leidet unter einem akuten Fachkräftemangel. Egal, wohin man schaut, überall fehlt Personal: im Schwimmbad, an Flughäfen, in der Gastronomie. Im Gesundheits- und Pflegebereich ist der Mangel besonders eklatant. Immer wieder kommen Debatten auf, wie die Lücke geschlossen werden kann. Anreize wie bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen stehen ganz oben auf der Liste. Ein neuer Vorschlag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sorgt aktuell für große Diskussionen: Er schlägt ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen vor. Ob das des Rätsels Lösung sein kann, darüber sprach die Soziologin und Arbeitswissenschaftlerin Prof. Heike Ohlbrecht im Interview.

Portrait Prof. Heike Ohlbrecht (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Heike Ohlbrecht (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mit seinem Vorschlag eines verpflichtenden sozialen Jahres eine Debatte angestoßen, die immer mal wieder neu aufkommt: Was genau ist denn ein soziales Pflichtjahr und wen würde es betreffen?

Der Bundespräsident sprach bewusst nicht von einem „Pflichtjahr“, sondern ließ den Zeitraum offen, denn die Debatte dazu muss erst noch erfolgen. Aus seinen Aussagen könnte man schlussfolgern, dass es sich um eine bestimmte Pflichtzeit handelt, die junge Menschen nach Abschluss der Schulbildung vollziehen. Vorrangig sicherlich im sozialen Bereich, diesen hat Frank Walter Steinmeier selber ins Spiel gebracht. Näheres ist noch nicht bekannt, auch nicht der Zeitraum und wie verpflichtend dies sein wird. Das heißt, es könnte auch in anderen Bereichen ein „Pflichtjahr“ geben. Das wäre natürlich sehr interessant zu wissen, ob es auch in andere berufliche Bereiche geht, wie z.B. in handwerkliche Berufe.

Die Süddeutsche Zeitung hat das soziale Pflichtjahr „Anti-Ego-Jahr“ genannt – könnte die soziale Pflichtzeit wirklich den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken?

Die Gesellschaft lebt natürlich von einem solidarischen Miteinander und Füreinander. Daher ist die Idee, einen Pflichtzeitraum einzuführen selbstverständlich sympathisch. Die Vorstellung, dass junge Menschen sich in Projekten ihrer Wahl engagieren, vorrangig im sozialen Bereich, hört sich erst einmal gut an. Ob man das verordnen kann, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Was ich an der Bezeichnung Anti-Ego-Jahr problematisch finde, ist, dass damit unterstellt wird, dass die Jugend eher egoistisch und weniger am Gemeinwohl orientiert wäre. Ich glaube, das ist eine Behauptung, die schlichtweg nicht zutrifft. Ich erlebe die junge Generation gerade auch bei uns an der Universität als sehr engagiert. Sie ist alles andere als egoistisch.

Für viele Studierende ist das Studium eine Lebensphase, in der sie sich finden können. Sie engagieren sich politisch oder sozial, gehen für ein paar Semester ins Ausland und brauchen darum unter Umständen länger für den Abschluss. Könnte ein verpflichtendes Jahr nach dem Abitur bereits zur Selbstfindung beitragen und auch den Druck nehmen, schnell mit einem Beruf fertig werden zu müssen?

Das zählt sicherlich zu den Vorteilen, denn es könnte die Übergangsphase von der Jugendzeit zum Erwachsensein noch mal verlängern und Möglichkeiten bieten, sich auszutesten. Das ist sicherlich auch eine Chance. Wir müssen nur bedenken, dass diese Chance, so einen Pflichtzeitraum auszugestalten, natürlich auch mit Fragen der sozialen Ungleichheit verbunden ist. Das muss man sich schlichtweg auch leisten können. Es gibt viele Jugendliche, die müssen nach der Schule möglichst schnell in Arbeit kommen. Die können es sich nicht leisten, ein Jahr lang mit wenig oder schlechter Bezahlung zu verbringen und den Arbeitseintritt aufzuschieben.

Was spricht denn grundsätzlich für ein Pflichtjahr?

Ganz allgemein natürlich die Erweiterung des eigenen Horizontes; dass man andere Lebenswelten kennenlernt, , die man in der eigenen Biografie bis dahin nicht erfahren hat; dass man soziale Verantwortung spürt, das soziale Miteinander erleben kann. Und es ist eben auch eine Möglichkeit, die Jugendphase noch einmal anders zu nutzen, um sich auszuprobieren. Wir wissen, dass es in modernen Gesellschaften schwieriger geworden ist, sich selbst zu positionieren. Da kann so ein Pflichtzeitraum – wir können es auch Findungsphase nennen – natürlich auch zuträglich sein für einige junge Menschen, sich besser zu positionieren und die Komplexität der Gesellschaft dann auch bewältigen zu können.

Und was spricht, abgesehen von der sozialen Ungleichheit, dagegen?

Leider besteht die Gefahr, dass diejenigen, die diesen Zeitraum in Anspruch nehmen, als billige Arbeitskräfte instrumentalisiert werden, um den Status quo der i.d.R. schlecht bezahlten Arbeitsverhältnisse in vielen sozialen Bereichen aufrechtzuerhalten. Gerade im Pflege- und Gesundheitsbereich oder grundsätzlich im sozialen Bereich haben wir einen akuten Fachkräftemangel. Soll dieser Personalmangel kompensiert werden? Wir wissen z.B., dass die Effekte von unausgebildeten Arbeitskräften für den Bereich eher gering sind. Also bräuchten sie dann in diesem Zeitraum eine gute Begleitung und Einführung für diese Tätigkeiten.

Es gibt bereits das Freiwillige Soziale Jahr, der Name verrät es, das Jahr kann freiwillig gemacht werden. Über 50.000 Menschen entschieden sich 2021 dazu ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen. Ist es wirklich nötig, die Jugendlichen nach dem Schulabschluss zu verpflichten?

Ich denke, dass es nicht nötig ist. Wir haben mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr gute Erfahrungen gemacht. Die Vorstellung, dass wir junge Menschen verpflichten müssen, solidarisch zu sein, ist aus meiner Sicht falsch. Sie sind von sich aus in den allermeisten Fällen solidarisch. Die Forderung jetzt ist auch denkbar ungünstig und unglücklich platziert. Wir haben in den letzten zwei Jahren im Zuge der Pandemie erlebt, dass es insbesondere die jungen Menschen waren, die sich sehr solidarisch gezeigt haben. Also ich glaube nicht, dass man ihnen Solidarität beibringen muss. Wir sollten darauf setzen, dass viele aus einer hohen intrinsischen Motivation sich freiwillig engagieren. Auch die großen Wohlfahrtsverbände haben sich bereits gegen dieses Pflichtjahr ausgesprochen. Sie weisen darauf hin, dass es schwierig ist, wenn alle jungen Menschen in den sozialen Bereich hinein müssen. Da sind dann natürlich auch Personen dabei, die wenig motiviert sind, die es als Druck empfinden und wenig Neigung und Interesse für den sozialen Bereich haben. Ob das dann nutzt, bezweifle ich.

Mit Blick darauf, dass immer mehr Arbeitskräfte vor allem in Pflegeheimen und Krankenhäusern fehlen: Ist das soziale Pflichtjahr einfach nur eine Möglichkeit dieses Loch mit „billigen“ Arbeitskräften zu stopfen?

Die Befürchtung liegt nahe. Mir ist ganz grundsätzlich noch nicht klar, worum es bei dem „Pflichtjahr“ gehen soll – darum, Wertorientierungen zu ändern in Richtung eines solidarischen Miteinanders oder geht es darum, in systemrelevanten Bereichen den Fachkräftemangel zu lösen. Wir haben gerade im sozialen Bereich einen eklatanten Personalmangel. Die Vermutung liegt daher leider nahe, dass dadurch Löcher gestopft werden sollen. Auch angesichts der Debatten, die wir im Moment über den Pflegenotstand und die Notlage in systemrelevanten Berufen führen, wäre dies nicht unwahrscheinlich.

junge Frau lacht herzhaft mit einer älteren Dame (c) Shutterstock Monkey Business ImagesVor allem im Gesundheits- und Pflegebereich fehlen in Deutschland viele Fachkräfte. Mit einem sozialen Pflichtjahr soll diese Lücke geschlossen werden. (Foto: Shutterstock / Monkey Business Images)

Lässt sich Solidarität denn verordnen? Würde der Zwang wirklich den gewünschten Effekt für die Gesellschaft haben?

In den Sozialwissenschaften ist man sich uneins darüber, ob Solidarität grundsätzlich auf Freiwilligkeit beruht oder ob sie eingefordert und verordnet werden kann. Es spielen bei der Frage zwei Seiten eine wichtige Rolle: ein Wertkonflikt zwischen den Individualinteressen auf der einen Seite und den Gemeinwohlinteressen auf der anderen. Unsere Gesellschaft scheint in den letzten Jahren stark in Richtung Behütung der individuellen Interessen gegangen zu sein. Wir haben mit Beginn der Pandemie auch gesehen, wie schwierig es ist, diese zu beschneiden.

Selbstverständlich kann man Solidarnormen institutionalisieren. Man kann sie formalisieren und in Gesetzestexte gießen. Wir sprechen von Sollens-erwartungen, die an das Individuum gerichtet werden. Diese Solidarnormen kann man formulieren, aber man kann Solidarität nichtverordnen. Und ob aus Solidarnormen dann Solidarität erwächst, ist eine völlig offene Frage. Um noch einen anderen Begriff ins Spiel zu bringen: Wir sprechen in der Soziologie von Fragen der gesellschaftlichen Integration. Und da entsteht die Frage, ob die Beschneidung von Individualrecht durch die gesetzliche Verordnung eines Pflichtdienstes möglicherweise zu einer Überintegration führt und für die Solidarität als solche sogar schädlich ist.

Warum wird in der Debatte vor allem diskutiert, dass nur junge Menschen dieses soziale Pflichtjahr ableisten müssen – wäre es nicht fairer alle Bürgerinnen und Bürger dazu zu verpflichten?

Es wäre sicher fairer, alle Bürgerinnen und Bürger dazu zu verpflichten oder ihnen dieses Angebot zu unterbreiten. Ich finde es sehr bedenklich, dass wir einen Diskurs über die egoistische Jugend führen, der wir erst noch Solidarität beibringen müssen. Das ist ein ganz altes Thema. Schon Aristoteles sprach davon, dass es angesichts der Jugend sehr schlecht bestellt sei um die Zukunft der Gesellschaft.. Die derzeitige Jugend scheint unberechtigterweise immer die schlechteste zu sein . Also von diesem Diskurs sollten wir uns erst einmal lösen und dann darüber nachdenken, ob solche Zeiträume, ob nun verpflichtend oder als Angebot unterbreitet, nicht auch generell zuträglich sind für Bürgerinnen und Bürger. Wir sehen beispielsweise, dass es im Moment auch starke Belastungen in der Arbeitswelt gibt, dass wir über ein Versiegen von zentralen Sinnquellen sprechen und ein Bedürfnis nach Sinnerleben in einer singularisierten modernen Gesellschaft besteht. Vielleicht ist es dann noch mal eine gute Möglichkeit, eine Zeit lang rauszugehen, etwas anderes auszuprobieren, neue biografische Erfahrungen zu sammeln und sich gesellschaftlich zu engagieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Vor vielen Jahren hatten junge Männer die Wahl, ob sie die Grundausbildung bei der Bundeswehr absolvieren oder Zivildienst leisten – also ähnlich zu einem sozialen Pflichtjahr. Wie gut hat das funktioniert? Und hätte das vielleicht einfach nicht abgeschafft werden sollen?

Es gab damals sicher auch gute Gründe, warum es abgeschafft wurde. Worauf wir setzen sollten, ist, dass zivilgesellschaftliches Engagement aus einer intrinsischen Motivation erfolgen sollte und dieses nicht von außen erzwungen wird. Ich kann mir vorstellen, dass natürlich die Idee dahinter ist – und das gehört womöglich auch zu den Vorteilen eines solchen Zeitraums – , dass daraus so etwas wie ein „Klebeeffekt“ entsteht; dass man Erfahrungen sammelt in Bereichen, die man vorher noch nicht kannte und dann feststellt, hier möchte ich beruflich später sogar bleiben. Das kennen wir aus dem Zivildienst, dass viele junge Männer erstmalig mit Bereichen in Gesundheit, Pflege, Behindertenhilfe etc. in Berührung kamen und dann später dort auch arbeiten wollten. Das ist natürlich etwas, was man sich von diesem Zeitraum auch verspricht und was sicherlich auch gut wäre, weil wir dann so die geschlechtsspezifische Berufswahl etwas aufbrechen könnten.

Wie könnte man diesen Pflichtzeitraum denn attraktiv gestalten?

Dazu bedarf es einiger struktureller Rahmenbedingungen. Man müsste definitiv über die Vergütung sprechen. Bei dem Freiwilligen Sozialen Jahr ist es z.B. so, dass der Kindergeldbezug nicht verlängert wird. Das sollte aber der Fall sein. Der Zeitraum müsste für die Rente anrechenbar sein. Und es braucht natürlich eine fachgerechte Begleitung. Es sind ja mitunter auch einschneidende, vielleicht auch belastende Erfahrungen, die man macht in bestimmten Institutionen. Wenn die richtigen Anreize gegeben sind, steigt sicher auch die Bereitschaft, solche Zeiträume in Anspruch zu nehmen.

Wird es Ihrer Meinung nach ein soziales Pflichtjahr geben?

Ich denke, es wird sehr wahrscheinlich schon aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht dazu kommen. Ich würde mir wünschen, dass diese Pflichtzeiträume nicht allein auf das Jugendalter fokussiert sind. Es könnte auch ein Angebot sein an andere Lebensalter, an andere biografische Stationen. Warum sollte man nicht auch im höheren Lebensalter Lust haben und Sinn darin sehen, sich sozial zu engagieren und auch einmal einen solchen Zeitraum zu absolvieren?