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Befürworter und Gegner des Brexit halten sich in Großbirtannien die Waage
22.12.2020 aus 
Forschung + Transfer
Die Lehren des Brexit-Prozess

Ein Jahr ist es nun fast her, dass das Vereinigte Königreich seinen Austritt aus der EU unterzeichnete. Am 31. Dezember 2020 endet nun auch die Übergangsphase, in der britische Staatsangehörige weiter wie Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates behandelt werden. Was bedeutet ein harter Bruch der Handelsbeziehungen für die EU und Deutschland, wenn die Verhandlungen scheitern? Was gilt nun – Stand kurz vor Weihnachten – ab Januar 2021? Katharina Vorwerk sprach darüber mit der Politikwissenschaftlerin und Europaexpertin Prof. Dr. Eva Heidbreder der Universität Magdeburg.

Frau Professorin Heidbreder, am 31. Dezember 2020 endet die im Austrittsabkommen vereinbarte Übergangsphase, in der Großbritannien weiter Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion ist. Was bedeutet das konkret für den Neujahrsmorgen 2021?

Der Brexit schlägt nicht wie eine Bombe an einem Tag oder zu einer Stunde ein. Prognosen und Vorhersagen dieser Art haben wichtige sachliche Argumente in einer polarisierten Debatte geschwächt, weil es eben nicht zu schlagartigen Einbrüchen gekommen ist und die Mahner als Lügner dargestellt wurden. Der Brexit wirkt sich schrittweise aus und der Prozess ist schon in vollem Gange. Jetzt, kurz vor Weihnachten, sehen wir bereits einige Zuspitzungen. Schon drei Wochen vor Jahresende stauen sich LKWs bis zu dreißig Kilometer an den Grenzen – das ist noch vor den Grenzkontrollen. Und wegen des Auftretens einer neuen Covid-19-Mutation stellen viele EU-Staaten die Flüge von Großbritannien ein, der Tunnel ist zu. Das sind sehr starke Vorboten auf einen immer wahrscheinlicheren Brexit ohne ein Austrittsabkommen. Allerdings wissen wir immer noch nicht, unter welchen genauen Bedingungen das Vereinigte Königreich das Jahr beginnt. Ein Abkommen mit der EU, ja oder nein, ist weiter die Gretchenfrage.

Einen umfassenden Vertrag über die zukünftigen Beziehungen wird es auf gar keinen Fall mehr geben. Das Europäische Parlament hat den vierten Advent als letzten Termin benannt, an dem ein Vertragsentwurf zur parlamentarischen Prüfung hätte eingehen müssen. Auch diese Frist ist verstrichen. Sollte es noch eine Einigung geben, können die über 700 Seiten nicht mehr in alle Amtssprachen übersetzt und vom Parlament ernsthaft geprüft werden. Wenn es noch eine Einigung gibt, dann maximal über einen Vertrag, der vorläufig in Kraft tritt. Parallel aktiviert die EU momentan bereits lang vorbereitete Notfallpläne, so dass für einige Monate Dinge wie Flugverkehr, Flugsicherheit, Anbindung an den Straßenverkehr und Fischerei weiter unter Behelfsmaßnahmen funktionieren. Obschon die britische Regierung auch ernsthafte Probleme benannt hat, gibt es von ihr keine vergleichbaren konkreten Notfallpläne. Ich gehe aber davon aus, dass die wichtigsten Dinge irgendwie geregelt werden – bezüglich der Lebensmitteleinfuhr für Nordirland ist bereits ein dreimonatiges Moratorium der eigentlich strengen Außengrenzkontrollen der EU beschlossen, um die Nahrungsversorgung sicherzustellen. Es gibt dementsprechend auch Überlegungen, für die Einfuhr von Covid-19-Impfstoffen gegebenenfalls Militärflieger einzusetzen. Es wird also keinen Silvesterknall geben, Verzögerungen und Engpässe zeichnen sich jetzt bereits ab. Das volle wirtschaftliche Ausmaß des Brexit entfaltet sich schrittweise und hat mit ausbleibenden Investitionen und dem Weggang von Unternehmen und Arbeitskräften längst begonnen und die Schrumpfung der Wirtschaft wird sich weiter über mehrere Jahre ziehen.

 

Anfang Dezember gab es, nach mehreren erfolglosen Telefonaten, ein Abendessen zwischen Premierminister Johnson und Kommissionspräsidentin von der Leyen in Brüssel. Was musste konkret ausgehandelt werden und wie ist der Stand?

Die Verhandlungspunkte sind hochpolitisch und eine Lösung ist nur möglich, wenn eine Seite Kernforderungen aufgibt. Die EU ist nicht bereit, einen Zugang zum Binnenmarkt ohne die Einhaltung von EU-Standards und Subventionsregeln zu gewähren. Das beinhaltet auch konkrete Kontrollen für die Zukunft, wenn sich die Rechtssysteme unterschiedlich entwickeln. Aber genau solche Kontrollen betrachtet die britische Regierung als einen Eingriff in die nationale Souveränität. Gemeinsame Regeln sind, aus EU-Perspektive, der Zweck von Handelsverträgen. Der Kern von Johnsons Brexit-Versprechen ist aber, dass Großbritannien Zugang zu Teilen des Binnenmarktes bekommt und gleichzeitig volle Autonomie über die Spielregeln hat. In der EU, also zwischen den 27 Regierungen, den nationalen und dem Europäische Parlament und in der Breite der Gesellschaft sind sich alle einig, dass das inakzeptabel ist. Binnenmarktteilnehmer müssen nach den gleichen Spielregeln handeln, damit die EU weiter funktioniert.

Es geht also um zentrale Prinzipien auf beiden Seiten und das auf einer sehr zerrütteten Vertrauensbasis. Die britische Regierung hat ein Gesetz vorangetrieben, das vorsah, das bestehende Austrittsabkommen zu umgehen und internationales Recht mit Ansage zu brechen, um die gemeinsam verabschiedete Lösung für die irische Grenzfrage zu widerrufen. Beim Treffen zwischen von der Leyen, Johnson und den fortlaufenden Verhandlungen geht es also immer wieder um die Frage, ob Johnson sich bewegt und die politische Marschroute ändert oder wie weit die EU von ihren Prinzipien abweicht. Anders als in der EU, wo sehr viele Akteure mitentscheiden, hat Johnson allerdings weitreichende Entscheidungskompetenzen. Während in der EU das Europäische Parlament den Vertrag annehmen muss, ist das britische Parlament nicht beteiligt. Außerdem wird der Schaden eines harten Austritts für Großbritannien massiv höher als für die EU sein wird.

 

Obwohl das Dinner gezeigt hat, dass keine Lösung in Sicht ist, gab es einen wichtigen Beschluss: Es wird weiterverhandelt. Und diese Entscheidung ist bisher nach jeder abgelaufenen Frist gefallen. Warum?

Erstens möchte keine Seite der anderen das Argument schenken, die Schuld für ein Scheitern zu tragen. Zweitens ist ein Ausscheiden ohne Abkommen wirklich erheblich schädlicher als mit einem Abkommen, beide wollen also ein Abkommen. Die Minimaleinigung ist daher immer wieder, weiter zu reden – obwohl in der Substanz niemand Fortschritte erwartet. Gleichzeitig wird das Säbelrasseln immer lauter. Das wird auch der größte Einschnitt am 1. Januar sein. Gibt es davor nicht irgendeine Vereinbarung, die irgendwie gestattet, weiter zu verhandeln, sind die Gespräche erst einmal vorbei. Es fehlt dann also auch die Plattform, um die weiter bestehenden Probleme zu lösen.

Solch ein Abbruch der Gespräche wäre nicht nur mit Blick auf die offenen Handelsfragen ungut. Ein Kontaktabbruch kann auch weitreichende politische Folgen nach sich ziehen, weil unweigerlich Schuldzuweisungen für das Scheitern folgen werden. Auch seriöse britische Zeitungen titelten, dass Kriegsschiffe in Stellung gebracht würden, um nach dem 1. Januar 2021 französische Fischer von der britischen Küste fernzuhalten. EU-Regierungen werden von Boulevardmedien als Gegner der Briten ausgemacht, wie unlängst Angela Merkel als die Deutsche, die wolle, dass Briten leiden und durch Scherben gehen sollten. Es gibt wenig Anhaltspunkte, die aufzeigen, wie sich hieraus gute und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Fronten im Königreich und mit den europäischen Nachbarn entwickeln sollen. Weiter verhandeln, Notfallmaßnahmen aktivieren und besonders akute Probleme gesondert regeln, das sind momentan die einzigen Erfolgsmeldungen. Es ist nur zu hoffen, dass sie eine harte Landung der Briten hinreichend abfedern können. Gerade in der Vermischung mit den Auswirkungen der Pandemie ist dies aber momentan kaum wirklich vorherzusehen.

 

Welche Auswirkungen hat das Verlassen von UK auf den Alltag der Bürgerinnen und Bürger der EU und speziell der in Deutschland?

Versuchen Sie einmal, online britische Produkte zu kaufen! Kunden in Großbritannien bekommen bereits jetzt den Hinweis, dass die Lieferung im Januar mit einem erheblichen Preisaufschlag kommen wird, was nicht nur an Zöllen, sondern auch an zusätzlichen Steuern liegt. Bedenken Sie auch, dass die Briten alle Handelsverträge mit anderen Staaten verlieren, die sie in den letzten 40 Jahren ausschließlich im EU-Rahmen geschlossen haben. Wegen des bereits seit geraumer Zeit verfallenden Wertes des Pfund werden importierte Produkte ebenfalls teurer – bei uns wird dies aber nicht alle Preissteigerungen britischer Produkte ausgleichen. Falls Sie also britische Luxusprodukte lieben: schnell noch eindecken. Es ist nicht klar, ob die Lieferketten zusammenbrechen, teurer wird es auf jeden Fall. Einige Branchen, zum Beispiel Autozulieferer, werden besonders betroffen sein und dies hat auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Bisher liegt wenig Aufmerksamkeit auf der Frage, wie der gesellschaftliche Austausch betroffen sein wird. Die stark feindselige Rhetorik besonders hartgesottener Brexit- Befürworterinnen und -Befürworter ist meiner Meinung nach sehr gefährlich. Die simplen in schwarz-weiß getönten populistischen Darstellungen haben den Brexit-Prozess dominiert. Wenn diese Narrative auch die nächsten Jahre bestimmen, werden die Gesellschaften immer mehr Unverständnis füreinander und nationale Argumente gegeneinander aufbauen. Ich sehe, ganz ehrlich, im Moment keine belastbare alternative Vision. Wahrscheinlich, weil jene, die freundschaftliche Beziehungen als die Norm begreifen, sich nicht vorstellen können, dass diese enden könnten. Hier sehe ich eine große Verantwortung und harte Arbeit vor uns, in Politik, Gesellschaft und auch der Wissenschaft. Nicht obwohl, sondern grade weil so viele durch den mühsamen Brexit-Prozess frustriert und der Thematik müde sind.

 

Worauf müssen sich deutsche beziehungsweise europäische Studierende und Wissenschaftler einstellen, die bisher in Großbritannien eingeschrieben sind beziehungsweise dort arbeiten?

Erstens werden sie ab dem 1. Januar 2021 nicht mehr automatisch wie britische Studierende behandelt und müssen wahrscheinlich massiv höhere Studiengebühren zahlen. Schottland hat allerdings angekündigt, für EU-Studierende weiter die inländischen Gebühren zu erheben, vielleicht folgen andere. Die britischen Unis sind massiv auf stabile Studierendenzahlen und die Gebühren angewiesen.

Zweitens ist Großbritannien ohne Abkommen auch nicht mehr am Erasmus- oder irgendeinem anderen EU-Bildungs- oder Forschungsförderungsprogramm beteiligt, all diese Formen der Unterstützung entfallen also.

Drittens wird es auch nicht mehr so leicht sein, einen Nebenjob als Ausländerin oder Ausländer zu bekommen, denn den Arbeitsmarkt stärker zu reglementieren war eines der erklärten Ziele der Brexit-Befürworter. Es wird also unterm Strich sehr teuer, in Großbritannien zu studieren. Die Preissteigerungen durch den Brexit habe ich noch gar nicht eingerechnet, aber die privaten Haushalte werden massiv betroffen sein. Durch einen Verfall des Pfund könnte sich das aber für Menschen mit Euro-Einkommen auch etwas ausgleichen.

Viertens müssen wohl Visa beantragt werden, aber wie und was das genau bedeutet, ist weiterhin unklar, weil die Beziehungen zwischen EU und UK noch nicht geregelt sind und auch innerhalb Großbritanniens die Fragen nach Gebühren, Visa und so weiter noch nicht geklärt sind. In jedem Fall muss man sich auf ein hohes Maß an Unsicherheit einstellen. Inwieweit gesellschaftliche Verwerfungen und wachsender Nationalismus auch das private Leben beeinflussen werden, hängt sicher sehr davon ab, wo und mit wem man lebt. Die Stimmung wird aber angespannter und der Ton rauer, weil der Brexit die Spaltung zwischen Arm und Reich antreibt und damit auch nationalistische und anti-ausländische Einstellungen.

shutterstock (c)  Ink DropBefürworter und Gegner des Brexit halten sich in Großbirtannien die Waage (Foto: shutterstock (c) Ink Drop)

Ist der Brexit für die EU wirtschaftlich verkraftbar oder werden, auch in Deutschland, Arbeitsplätze verloren gehen?

Es werden Arbeitsplätze verloren gehen, aber wir sind schon mitten in diesem Prozess. Die Automobilindustrie ist besonders betroffen, geschätzt wird, dass bis zu 20.000 Arbeitsplätze betroffen sein könnten. Einige britische Akteure warten daher bis heute darauf, dass Angela Merkel im Sinne der deutschen Automobilindustrie Druck auf die EU-Partner ausübt und die EU deshalb am Ende die Kernforderungen der Briten annehmen wird. Das ist natürlich völlig illusorisch.

Es herrscht ein außergewöhnlich starker Konsens zwischen Industrie und Politik, dass der Brexit sehr kostspielig und schädlich ist, dass aber der Erhalt des Binnenmarktes viel, viel wichtiger ist und daher sogar ein harter Brexit besser zu verkraften ist, als ein Einlenken gegenüber den britischen Forderungen. Aus dieser Überzeugung heraus haben viele Unternehmen bereits begonnen, die Brexit-Verluste einzupreisen und Ersatz für die britischen Märkte zu suchen. Außerdem tritt das Brexit-Problem gegenüber der momentanen Pandemie ziemlich in den Hintergrund.

 

Apropos Pandemie: Welche Rolle spielt Covid-19; inwiefern hat Corona die Lage verschärft?

Die Pandemie schwächt die Wirtschaften überall und für Großbritannien wirkt in der Pandemie der Brexit wie ein Brandbeschleuniger. In der EU wird alles darangesetzt, ein massives Covid-Wiederaufbauprogramm von 750 Milliarden Euro zu planen, um diese Jahrhundertherausforderung zu stemmen. Trotz der sehr starken Betroffenheit von Covid-19 wird in Großbritannien der Brexit aber die tieferen und langwierigeren Einschnitte auslösen und über Jahre hinweg wirken.

Die Unklarheit, was momentan der Pandemie und was dem Brexit zuzuschreiben ist, verleitet aber auch die britische Regierung dazu, diese Unklarheit zu nutzen. Tatsächlich könnte Johnson gerade deshalb jetzt einen harten Brexit ohne Abkommen einem Abkommen vorziehen. Die unvermeidbare Unzufriedenheit über jede Form von Abkommen wird klar an ihm hängen bleiben, schließlich ist er mit dem Versprechen gewählt worden, ein Handelsvertrag mit der EU sei schon fertig und würde die volle Souveränität des Landes garantieren. Egal welchen Vertrag er unterzeichnet, das wird nicht eintreffen.

Die Folgen eines harten Brexit können momentan aber, zum Teil, mit den Pandemieauswirkungen kaschiert und die EU als unnachgiebiger, unfairer Verhandler angeprangert werden. Die Position, dass man Kooperation in einem EU-Rahmen, der ein gemeinschaftliches Rechtssystem schafft, nicht möchte, weil man so nicht alle Regeln allein bestimmt, ist legitim. Die Kosten aber nicht klar zu benennen und die Politik darauf auszurichten, diese Kosten aufzufangen oder zu vermeiden, ist im besten Falle kopflos. Im schlimmsten Falle ist dies aber zynisch gegenüber den extrem bedrückenden Bedürfnissen der eigenen Bürgerinnen und Bürger in dieser doppelten Notlage.

 

Wie geht es für die verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten weiter, was sind die nächsten inneren Herausforderungen in der EU?

Die größte Herausforderung ist aus meiner Sicht, wie die EU-27 die Zersetzung von Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie in den Mitgliedstaaten stoppen und rückgängig machen kann. Vor allem das Regierungshandeln in Polen und Ungarn ist dramatisch. Die beiden Regierungen nutzen die europäischen Abstimmungsregeln, um die Partner durch Vetos, unlängst im Falle des langfristigen Haushalts und des Covid-Wiederaufbaufonds, dazu zu bringen, neue Regelungen für die gemeinsame Rechtsstaatlichkeitskontrolle aufzuweichen oder zumindest die Anwendung zu verzögern. Der Kompromiss, den Polen und Ungarn so erzwungen haben, macht es erheblich schwerer, die EU-Mittelvergabe an Rechtsstaatlichkeit zu koppeln. Aber: Wenn die Kommission und die 27 Mitgliedstaaten es wollen, können sie eingreifen. Der Druck des Europäischen Parlaments diesbezüglich ist parallel zu einem stärkeren öffentlichen Interesse gewachsen.

Diese Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung ist zentral. Auch in der Vergangenheit gab es schon rechtliche Möglichkeiten, stärker Einfluss auf die Entwicklungen in Ungarn und Polen zu nehmen. Es fehlte aber der politische Wille, diese Möglichkeiten zu nutzen, zum Beispiel für Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Dass Victor Orbàns Partei Fidesz weiter (suspendiertes) Mitglied der Europäischen Volkspartei EVP und aktives Fraktionsmitglied der Gruppe im Parlament ist, erscheint hier nicht unwichtig. Aber auch hier wächst der Unmut und einige konservative Parteien in der EVP wollen den Ausschluss von Fidesz. Letzter Auslöser hierfür war, dass ein Fidesz-Abgeordneter den deutschen Fraktionschef mit einem Gestapo-Offizier verglich. Aber gerade der angegriffene Manfred Weber ist, im Sinne von CDU / CSU, weiter gegen einen Ausschluss von Fidesz, um den Kontakt und Möglichkeiten der direkten Einflussnahme nicht zu verlieren. Ob das Interview Orbàns in der ‚Welt‘, in dem er als Reaktion Weber beleidigt und Merkel lobt, eine Änderung in der EVP bringt, bleibt abzuwarten. Es liegt an der politischen Einordnung und vor alle am politischen Willen, wie es weitergeht. Der politische Wille lässt sich übrigens in Demokratien immer am besten durch eine Sache beeinflussen: Wählerwillen. Gesellschaftliche Einmischung ist daher bei diesem Thema besonders relevant.

 

Sie leiten an der Universität den Studiengang ‚European Studies‘. Welche Bedeutung hat für Sie die Ausbildung eines ‚europagebildeten Nachwuchses‘?

Wir haben längst nicht mehr die Situation, dass ein spezifischer Nachwuchs für EU-Themen ausgebildet werden sollte. Anfang der 1990er war dies ein Ansatz, um mehr Expertise über die EU zu schaffen. Es wurden damals an ausgewählten Hochschulen Studiengänge geschaffen, um vor allem Beamte im Auswärtigen Amt und anderen Schaltstellen auszubilden. Vor einigen Wochen durfte ich die Abschlussrede für einen solchen Spezialstudiengang der Berliner Universitäten halten, vor der letzten Kohorte. Dass der Studiengang eingestellt wird, hat nichts mit der Qualität der Ausbildung dort zu tun, die war hervorragend. Aber EU-Expertise ist keine Spezialdisziplin mehr, sie ist Breitensport.

Die Landesregierung Sachsen-Anhalt betont immer wieder, wie dringend EU-Wissen bis tief in die Kommunen hinein gebraucht wird. Unternehmen, zivilgesellschaftliche Akteure, Kunstschaffende. Überall ist es wichtig zu wissen, welche EU-weiten Regeln es gibt und wie diese mitzugestalten sind. Das gilt ja nicht zuletzt für meine eigene Disziplin, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen wenig EU-Expertise, um an Fördertöpfe zu kommen.

Gutes disziplinäres Handwerkszeug, interdisziplinäres Verständnis und Wissen über europäische Systeme und Dynamiken, um eigenständig Fragestellungen von Relevanz zu entwickeln und zu bearbeiten, das sind Bausteine einer idealen Grundausbildung. Entlang dieser Ziele ist unser Bachelorstudiengang European Studies seit 2020 neu konzipiert. Im Masterprogramm verknüpfen wir die akademische Vertiefung mit angewandten Forschungsfragen, die Herausforderungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder öffentlicher Kommunikation problematisieren. Durch die Vermittlung wissenschaftlicher Analyseansätze und die direkte Auseinandersetzung mit Personen aus der Praxis werden Studierende vorbereitet, in eigenen Forschungsarbeiten ‚echte' Probleme mit einem systematischen Zugang zu bearbeiten.

 

Was kann politikwissenschaftliche Forschung für die Gesellschaft und die EU leisten?

Grundlegend befördert Politikwissenschaft das Verständnis davon, wie Formen politischer Ordnung und Dynamiken politischer Prozesse wirken und so das Leben von Menschen und zentrale Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens beeinflussen. Solch grundlegende Erkenntnisse können nutzbar gemacht werden, um normative Ziele zu befördern. Angewandte Politikwissenschaft hingegen ist meist mit erheblich konkreteren Fragen der gesellschaftlichen Steuerung und Problemlösungen befasst. Diese reichen von Fragen, wie Gewalt und Konflikte gelöst werden können, die unser Studiengang ‚Peace and Conflict Studies’ unter Leitung Professor Alexander Spencers behandelt, bis zu konkreten Fragen, wie so ein ‚new green deal' gestrickt sein muss, damit das Klima wirklich gewinnt, die mein Kollege Professor Michael Böcher bearbeitet.

Was gesellschaftliche Steuerungsinstrumente angeht, ist die EU ein spannendes Labor, weil es ein politisches System ist, das kein ultimatives staatliches Machtmonopol hat. Die EU hat weder Polizei noch Militär und am Ende müssen die Mitgliedstaaten die gemeinsamen Beschlüsse freiwillig umsetzen. Wie kann man es trotzdem schaffen, verbindlich gemeinsame Politiken zu gestalten, die von Bürgerinnen und Bürgern als legitim und gewinnbringend angesehen werden? Und was passiert, wenn der Grundkonsens über eine freiwillige Kooperation gebrochen wird, wie im Fall des Brexit? Im Bereich der Grundlagen und der angewandten Forschung ist es Aufgabe der Politikwissenschaft, diese drängenden Fragen zu stellen und zu beantworten.

 

Frau Professorin Heidbreder, vielen Dank für das Gespräch.