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15.08.2022 aus 
Forschung + Transfer
Warum das 9-Euro-Ticket dauerhaft nichts bringt

So einen Hype gab es um den ÖPNV lange nicht mehr: Am 1. Juni wurde das 9-Euro-Ticket eingeführt – Ende Juni hatten sich nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen 48 Prozent der Erwachsenen eins gekauft bzw. ihr bestehendes Abo angepasst. Trotz voller Züge ist sich die Mehrheit der Deutschen einig: Wir brauchen ein Nachfolgemodell! Wie das aussehen könnte und ob das dazu führt, dass mehr Menschen dauerhaft auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, darüber sprach Prof. Sven Müller im Interview.

Portrait Prof. Müller (c) Jana Dünnhaupt Uni Magdeburg

Wie hat sich die Mobilität in Deutschland in den letzten drei Monaten durch das 9-Euro-Ticket denn verändert?

Im Wesentlichen sehen wir, dass mehr Fahrten mit dem öffentlichen Personennahverkehr gemacht wurden. Das sind in der Regel aber zusätzlich induzierte Fahrten. Zum einen sind Personen, die bereits öffentliche Verkehrsmittel nutzen, einmal öfter mit diesen gefahren. Zum anderen haben Personen, die für ihre üblichen Wege das Auto nutzen, zusätzliche Fahrten mit dem ÖPNV gemacht. Ein plakatives Beispiel sind die Punks auf Sylt. Ohne das 9-Euro-Ticket hätten sie die Fahrt wahrscheinlich nicht unternommen. Es wird aber wenig vom Auto in Bus und Bahn gewechselt, also das Auto stehen gelassen, sondern es werden zusätzliche Fahrten gemacht und dafür werden dann Bus und Bahn genutzt. Beim Mobilitätsverhalten haben wir also kaum spürbare Veränderungen registriert.

Kann so ein kurzfristiges Angebot dazu beitragen, dass die Bevölkerung auch langfristig ihr Mobilitätsverhalten ändert?

Aus zwei Gründen eher nein: Zum einen ist die Unsicherheit zu groß. Das 9-Euro-Ticket gibt es erst mal für einen begrenzten Zeitraum. Deswegen schaffe ich meinen PKW nicht ab und spekuliere darauf, dass es eine neue Regelung geben wird. Das grundsätzliche Mobilitätsverhalten wird durch so ein kurzfristiges Angebot also eher nicht geändert. Zum anderen ist die Verkehrsnachfrage in der Regel preisunelastisch; heißt: Es gibt Preisänderungen und die Verkehrsnachfrageänderung ist dann unterproportional, also die Anpassung Nachfrage fällt deutlich geringer aus als die Preisveränderung.

Auch langfristig sind Preisänderungen eher ein schlechter Hebel, denn der Preis ist nur ein Faktor, warum ich bestimmte Verkehrsmittel wähle. Der zweite ist in der Regel, wie gut ich dadurch mein Mobilitätsbedürfnis befriedigen kann und da spielen dann Reisezeiten eine wesentliche Rolle. Wenn ich meine regelmäßigen Ziele – also die Schule, die Uni oder die Arbeitsstelle – mit dem ÖPNV nicht in einer bestimmten Zeit erreichen kann, könnte der ÖPNV auch zum Nulltarif angeboten werden, dann werde ich trotzdem weiter mit dem PKW fahren.

Was spricht aus Ihrer Sicht dafür, das 9-Euro-Ticket dauerhaft einzuführen?

Ich würde davon abraten, das 9-Euro-Ticket dauerhaft einzuführen! Die Steuergelder, die dafür aufgewendet werden, wären in einer Verbesserung der Infrastruktur und Dienstleistung, besser investiert. So könnten die Fahrtzeiten und der Komfort verbessert werden. Ein wirklich guter Aspekt des 9-Euro-Tickets ist die Einfachheit. Wir haben in Deutschland einen ziemlichen Tarifdschungel. Wenn ich in eine andere Stadt komme, muss ich erst mal schauen, welche Tarife da gelten, durch welche Zonen ich fahre, welche Verkehrsmittel ich nutze. Das ist mit dem 9-Euro-Ticket unkompliziert – das kostet, egal wo ich bin, mit bestimmten Verkehrsmitteln halt 9 Euro. Die Einfachheit des Tickets ist ein wesentlicher Aspekt und ein deutlich besserer Hebel als der Betrag an sich – solange es das Ganze vereinfacht.

Kritisiert wird am 9-Euro-Ticket unter anderem, dass es sozial nicht gerecht sei, weil Landbewohner*innen es nicht so intensiv oder wegen mangelnder Anbindungen gar nicht nutzen können. Wie sähe denn eine sozial und ökologisch gerechte Mobilität aus?

Das kommt darauf an, ob eine erhöhte Nutzung des ÖPNV aus ökologischen Gründen gesellschaftlich gewünscht ist. Dann kann man die Nutzung für alle Nutzer sehr günstig machen und die Mindereinnahmen durch Steuereinnahmen – die dann alle gemeinschaftlich tragen – finanzieren. Wichtig ist aber auch hier die Erreichbarkeit. Und nun ist es so, dass bestimmte Regionen – und das sind in der Regel eher sozial benachteiligte Regionen – mit dem ÖPNV schlecht erreichbar sind. Da brauchen wir noch nicht über ländliche Regionen sprechen; das gilt auch innerhalb von Städten. Da sieht man sehr gut, dass die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Stadtteilen mit einer Sozialstruktur, die eher mit niedrigen Einkommen einhergeht, häufig schlechter ist. Je weniger in den öffentlichen Nahverkehr investiert wird, desto eher sind solche benachteiligten Gruppen davon betroffen. Durch höhere Tarife – zum Beispiel einem 70-Euro-Ticket – könnten die Einnahmen auch dafür genutzt werden, um eine entsprechende Daseinsgrundversorgung sozial gerecht bereitzustellen.

Einem einheitlichen und damit einfachen Tarif steht natürlich immer die Fairness gegenüber. Wenn ich eine lange Strecke fahre, konsumiere ich mehr von der Dienstleistung, als jemand, der eine kurze Strecke fährt. Aber beide Personen zahlen den gleichen Preis. Derjenige, der die kurze Strecke fährt, subventioniert damit denjenigen mit, der die lange Strecke fährt. Deswegen würde ich dazu raten, dass sich der Tarif an der Zahlungsbereitschaft der Menschen orientiert und die ist, wenn die Reisezeit vergleichbar mit dem Auto ist, sogar recht hoch. Das hängt natürlich auch vom verfügbaren Einkommen ab. Da sollte dann ein sozialer Ausgleich geschaffen werden – gibt es ja jetzt auch bereits mit sogenannten Sozialtickets oder Tarifen für Studierende.

Die Züge waren in den letzten Wochen durch das 9-Euro-Ticket teilweise sehr voll. Nun wird befürchtet, dass das durch ein zu günstiges Nachfolgeangebot ein Dauerzustand werden könnte. Wie sinnvoll ist es denn in diesem Bereich die Nachfrage durch einen Preis zu steuern?

Das eigentliche Ziel des 9-Euro-Tickets war es, die Pendler zu entlasten, dass diese für ihre täglichen Fahrten weniger bezahlen mussten. Und den Zweck hat es durchaus erfüllt. Die Intention war nicht, die Nachfrage zu erhöhen. Daher glaube ich nicht, dass es langfristig einen Nachfrageboom geben wird und damit ein Beitrag zur Verkehrs- oder Mobilitätswende geleistet wurde.

Natürlich kann das 9-Euro-Ticket auch als eine Art Werbeveranstaltung für den ÖPNV gesehen werden für Nutzer, die täglich eigentlich mit dem PKW zur Arbeit fahren und den ÖPNV in den drei Monaten mal ausprobiert haben. Da ist jetzt die Frage: Wie gut war deren Erlebnis? Da wage ich zu bezweifeln, dass das grundsätzlich gut war – eben weil die Züge recht voll sind, viele ausfallen oder nicht pünktlich kommen. Das heißt, die Personen werden aufgrund dieser Erfahrung dann doch lieber beim PKW bleiben.

9 Euro Ticket (c) Shutterstock 1take1shotDas 9-Euro-Ticket hat wenig dazu beigetragen, dass weniger Menschen mit dem Auto fahren. (Foto: Shutterstock / 1take1shot)

Was sollte denn verändert werden, um dem großen Andrang gerecht zu werden?

Wir brauchen definitiv eine bessere Infrastruktur. Und da helfen im Prinzip nur zwei Faktoren: größere Transportgefäße, damit mehr Personen transportiert werden können. Und eine höhere Frequenz, also dass die Busse und Bahnen häufiger fahren. Für beides braucht man, das fahrende Material, also die Busse, die Bahnen und eben noch das Personal. Da reden wir von wirklich immensen Investitionen, und zwar langfristig. Dann muss nicht nur einmal in neue Schienenwege investiert oder neue Busse angeschafft werden. Ein Netzausbau ist auch mit mehr Personal verbunden und das verursacht langfristig deutlich höhere Kosten. Deutschlandweit betrachtet reden wir über einen höheren dreistelligen Milliardenbereich. Das wäre aber sicher eine Maßnahme, die deutlich zu einer Veränderung des Mobilitätsverhaltens beitragen könnte.

Ein Hoffnungspunkt ist, dass sich langfristig das autonome Fahren etabliert, was den wesentlichen Kostenblock des ÖPNV reduzieren würde – sprich das Fahrpersonal. Wenn man da Geld einspart, kann man natürlich mit mehr Fahrzeugen und einer höheren Frequenz eine größere Fläche bedienen. Aber: Wenn autonomes Fahren in Bussen und auf der Schiene funktioniert, dann funktioniert es wahrscheinlich auch für den privaten PKW. Und das macht natürlich den PKW dann wiederum deutlich attraktiver. Der Nachteil aktuell ist, dass ich während der Fahrt nichts anderes machen kann. Im Zug kann ich lesen, E-Mails schreiben, schlafen. Wenn ich jetzt aber ein autonom fahrendes Fahrzeug habe, kann ich all das machen, ohne auf einen Fahrplan angewiesen zu sein oder gegebenenfalls Verspätungen oder sonstige Unannehmlichkeiten hinnehmen zu müsse.

Deutschland ist ein Autoland – der eigene PKW ist den meisten heilig; und viele sind schlichtweg auch darauf angewiesen, um zur Arbeit zu kommen. Durch welche Anreize könnte man die Bevölkerung dazu bringen, auf ihr Auto zu verzichten?

Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass mehrere Jahrzehnte die Infrastruktur- und Stadtplanung auf diese individuelle Mobilität mit dem Auto ausgelegt war. Heute sieht man die negativen Seiten. Das sind insbesondere Staus und der große Flächenverbrauch vom motorisierten Individualverkehr. In der Stadt wird der größte Teil der Straße durch Autoverkehr eingenommen, entweder ruhenden Verkehr oder Fahren im Verkehr. Für Fußgänger oder Fahrradfahrer bleibt da wenig Platz. Jetzt gibt es ein Umdenken. Das haben wir gerade während der Coronakrise gesehen – da sind relativ viele Pop-up-Radwege entstanden. Es wird also versucht, den knappen Raum innerhalb der Stadt weniger den Autos zur Verfügung zu stellen, sondern mehr allen anderen Funktionen zuzuführen. Das macht das Auto unattraktiver in diesen Regionen, denn natürlich brauche ich für kurze Wege in der Stadt nicht unbedingt ein Auto.

Für eine wirkliche Verkehrsverlagerung – also um die Nachfrage vom Auto auf den ÖPNV zu verschieben – ist der wesentliche Faktor die Reisezeit. Damit ist nicht nur die Zeit gemeint, die ich im Bus sitze, sondern auch der Weg zur Haltestelle und die Wartezeiten dort. Wir wissen, dass gerade Wartezeiten zwei bis viermal Mal so schlimm empfunden werden, wie die Fahrzeit im Bus oder in der Bahn. Das ist also auch ein wesentlicher Treiber hin zum PKW. Nun will niemand direkt vor seiner Haustür eine Haltstelle haben, aber sie sollte dennoch möglichst schnell zu Fuß erreichbar sein. Ein anderer Punkt: Muss ich mich wirklich strikt an einen Fahrplan halten? Wenn zum Beispiel die Straßenbahn nur jede halbe Stunde fährt, dann muss ich sehr gut drauf achten, wann ich zu Hause losgehe. Dadurch plane ich natürlich mehr Zeit ein. Dadurch steigen die Wartezeiten und damit die Reisezeiten. Wenn ich aber einen Fahrplan habe, bei dem die Straßenbahn oder der Bus alle fünf Minuten fährt, dann gehe einfach los, stelle mich an die Haltestelle und warte auf den nächsten Bus. Das sind natürlich deutlich höhere Frequenzen. Und das heißt mehr Busse, mehr Personal, deutlich höhere Kosten. Und das muss politisch verhandelt werden, ob man das will. Da reden wir wirklich von enormen Investitionen, und das dauerhaft.

Abgesehen von öffentlichen Verkehrsmitteln: Wie kann sich die Mobilität in Deutschland verändern?

Da sehe ich zwei wesentliche Aspekte, die erreicht werden müssen: Das eine ist, dass wir effizienter mit dem mit dem knappen Gut Platz umgehen. Ein Auto, in dem im schlimmsten Fall nur eine Person sitzt, nimmt relativ viel Platz von der verfügbaren Fläche in Anspruch. Die gleiche Anzahl an Personen ist in einem Bus deutlich effizienter unterwegs. Und wenn wir es dann noch hinbekommen, dass die öffentlichen Transportmittel CO2 neutral angetrieben werden, dann hat man doppelt gewonnen. Das muss gesellschaftlich ausgehandelt werden, ob man in diese Richtung investiert oder nicht, weil da viele Faktoren dranhängen: Städtebau, Technologien, Bepreisung und eben auch der Ausbau des ÖPNV dahingehend, dass man eine entsprechende Erreichbarkeit herstellen kann.

Ich bin davon überzeugt, wenn die Erreichbarkeit mit dem ÖPNV gegeben ist, dann ist die Zahlungsbereitschaft auch relativ hoch. Dazu gibt es seit Jahrzehnten Studien, die das immer wieder zeigen. Da sehe ich nicht das wesentliche Problem. Man wird aber – wenn wir über die Flächenversorgung reden – keine kostendeckende Tarifstruktur hinbekommen, weil dafür die Kosten viel zu hoch sind. Das heißt, es wird immer ein defizitärer Betrieb sein, den wir aus Steuergeldern mitfinanzieren. Und da ist die Frage, ob man dazu bereit ist.