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Juniorprofessoren Schmidt und Zug (re.) im Stadtverkehr Magdeburg
06.08.2019 aus 
Forschung + Transfer
Wenn der Knochen zum Hund kommt

Sharing is caring. Das ist die umweltfreundliche und ressourcenschonende Philosophie einer ganzen Generation. Ob Kleidung, Autos oder Sofas es wird geteilt, was von mehreren Personen genutzt werden kann.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg wollen diesen Ansatz nun auch auf Lastenfahrräder übertragen. Gibt es doch schon? Nicht ganz! Das Besondere am Sharing-Konzept der Magdeburger Forscher ist nämlich, dass es sich um ein autonomes, also selbstfahrendes, Rad handeln soll, das allein zum Nutzer navigiert. Und zwar genau dann, wenn er es braucht und genau dorthin, wo er gerade ist.

Fahrrad rufen per App

Im Supermarkt doch mal wieder mehr in den Einkaufswagen gepackt als zwei Arme tragen können? Bei strahlendem Sonnenschein soll das Kind doch lieber mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto aus dem Kindergarten abgeholt werden? Oder der Weg zum Bahnhof ist zu Fuß mit dem schweren Koffer einfach zu weit? Es gibt zahlreiche Situationen, in denen man sich als Fußgänger spontan einen fahrbaren Untersatz herbeisehnt. Wer kein eigenes Auto oder Fahrrad besitzt, kann sich dank der wachsenden Sharing-Economy recht unkompliziert eins ausleihen. „Bei den klassischen Bike-Sharing-Konzepten gibt es jedoch feste Sammelstellen, an denen die Fahrräder abgeholt und wieder abgegeben werden müssen. Die Einkaufstüten muss man bis dorthin also noch immer tragen“, erklärt Juniorprofessor Dr. Stephan Schmidt, einer der Leiter des Projektes TRANSFORMERS. Deutlich komfortabler wäre es doch, wenn das Fahrrad zum Supermarkt, zum Arbeitsplatz oder nach Hause gefahren käme also dahin, wo man es just in diesem Moment braucht. Als würde der Knochen zum Hund kommen.

Genau das soll in wenigen Jahren tatsächlich Wirklichkeit werden urbane Zukunftsmobilität made in Magdeburg. Die ursprüngliche Idee einer Bike-Sharing-Flotte für den Freizeitbereich im Elbauenpark, die von den Besuchern zum Transport ihrer mitgebrachten Getränke, Grillsachen oder Outdoor-Spiele genutzt werden kann, hat schnell größere Dimensionen angenommen. Denn das Team um Juniorprofessor Schmidt vom Institut für Mobile Systeme und Juniorprofessor Zug vom Institut für Intelligente Kooperierende Systeme der Universität Magdeburg arbeitet an einem autonomen Lastenfahrzeug, das per Smartphone-App aus einem Depot zu jedem beliebigen Standort gerufen werden kann. „Unsere Vision ist es, dass sich das Fahrrad durch die Stadt autonom, also ohne Fahrer, zum Nutzer bewegt und dieser es nach Gebrauch einfach wieder zurück schicken kann“, so der studierte Mechatroniker Schmidt. Und die Erfolgsaussichten des Projekts sind vielversprechend. In der ersten Konzeptphase hat das Team zahlreiche Umfragen zur potenziellen Nutzung eines solchen Angebots in Magdeburg durchgeführt, mit dem Ergebnis: Die Nachfrage nach Ausleihmöglichkeiten für Fahrräder zum Transport von Lasten ist nicht nur in Parkanlagen, sondern insbesondere im täglichen Leben der Menschen ausgesprochen groß.

Das autonome Lastenfahrrad auf dem Unicampus. (c) Harald Krieg

Das autonome Lastenfahrrad auf dem Unicampus. (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)

Der erste fahrbereite Prototyp steht bereits und wurde mit Mitteln des Innovationsfonds der Universität Magdeburg realisiert. „Durch Zufall sind wir auf eine Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Mensch-Technik-Interaktion mit dem Schwerpunkt ‚Fahrradnutzung im urbanen Raum‘ gestoßen, haben uns beworben, Fördermittel erhalten und konnten so das Gesamtkonzept verfeinern und weiterentwickeln“, erinnert sich Schmidt. Die autonome Fahrtechnik soll in den kommenden Monaten verbaut, getestet und für den realen Fall optimiert werden. Dazu hat das Team in einer zweiten Antragsphase weitere 5 Millionen Euro Förderung beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zur Finanzierung der Umsetzungsphase beantragt. Ende des Jahres soll damit begonnen werden, den Algorithmus also die Software zur autonomen Steuerung des Fahrrads auf den Versuchsträger zu installieren.

Die Hürden des autonomen Fahrens

In diesem Zusammenhang erarbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konkrete Lösungen zur Umfeldwahrnehmung des Lastenfahrrads. Am Beginn steht die grundsätzliche Frage, wie das Gefährt die Welt um sich herum erkennen wird. Rote Ampeln und Bordsteine, Autos und Fußgänger, Schienen und Baustellen das Fahrzeug muss seine gesamte Umgebung erkennen, auf Hindernisse reagieren und gegebenenfalls mit anderen Verkehrsteilnehmern interagieren können. In einem gemeinsamen Projekt mit dem ifak Institut für Automation und Kommunikation e. V. Magdeburg werden erste Ansätze entwickelt und praktisch getestet.

Hinzu kommt, dass die Räder, um zukünftig autonom fahren zu können, auch eigenständig durch die Straßen navigieren müssen. Dazu müssen sie analysieren, wo sie und wo andere Verkehrsteilnehmer sich befinden und vorausschauend ausrechnen, was die anderen wahrscheinlich machen werden also mit welcher Geschwindigkeit sich Autos, Fahrradfahrer und Fußgänger in welche Richtung bewegen könnten“, so Juniorprofessor Stephan Schmidt über die wissenschaftlichen Herausforderungen.

Neben den technischen Anforderungen beschäftigen das interdisziplinäre Team auch zahlreiche logistische Fragestellungen: An welchen Plätzen in der Stadt sollten die zentralen Depots eingerichtet werden? Welche Routen sind für welche Nutzung am besten geeignet? Wie werden dem Fahrrad Unfälle, Hindernisse oder Baustellen gemeldet, sodass es diese umfahren und eine alternative Route einschlagen kann? Wie viele Räder müssen mit welcher Ausstattung zu welchen Wochentagen und Uhrzeiten verfügbar sein?

Im kommenden Jahr wird sich die Arbeitsgruppe darüber hinaus auch intensiv mit juristischen Aspekten, wie der Zulassung im Straßenverkehr und der Haftung bei Unfällen, beschäftigen. So ist zu klären, ob es sich bei der Entwicklung um ein Fahrrad handelt, das auf dem Radweg fahren kann, für das aber keine Haftpflichtversicherung abgeschlossen werden muss oder, ob es sich um ein Fahrzeug handelt, das auf der Straße fahren wird und es mindestens einer Haftpflichtversicherung bedarf. „In der Straßenverkehrsordnung werden autonome Fahrzeuge in verschiedene Stufen einsortiert. Bis Stufe 4 ist die Haftung bei Unfällen bereits geregelt; sprich wenn der Fahrer am Steuer Zeitung lesen würde, im Notfall aber noch eingreifen könnte. Für Stufe 5, also das voll autonome Fahren ohne einen Menschen am Steuer wie es bei unserem Lastenrad der Fall wäre muss noch eine Regelung gefunden werden“, erklärt der Jun.-Prof. der Fakultät für Maschinenbau.

Einrichtung der Frontkamera (c) Harald Krieg

Einrichtung der Frontkamera zur Fahrbahnerkennung im Labor. (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)

Auch die Ausarbeitung potenzieller Geschäftsmodelle wird im kommenden Jahr auf der Agenda stehen. In ersten Gesprächen mit der Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH gab es bereits einige Überlegungen, wie die Nutzung des Rades in das Ticketsystem von Bus und Bahn aufgenommen werden kann. In einem Lehrprojekt wird Prof. Ehmke der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft mit Studierenden mögliche Szenarien zur Auslastung der Lastenfahrräder sowie entsprechend angepasste Preismodelle erstellen. Und auch in diesem Punkt weiß Stephan Schmidt um die enormen Vorteile des autonomen Sharing-Konzepts: „Die festen Stationen des klassischen Bike-Sharings sind oft entweder permanent überfüllt oder leer oder die Räder werden einfach irgendwo abgestellt. 80 Prozent der laufenden Kosten entstehen nur dadurch, dass die Fahrräder von einer Station zur nächsten transportiert, beziehungsweise sie in der Stadt eingesammelt werden müssen. Wir wollen ein System anbieten, das sich selbst ausbalanciert.

Interdisziplinarität als Rezept für eine erfolgreiche Zukunft

Da die Forschergemeinschaft aus Experten verschiedener Disziplinen besteht, gibt es für die vielen Fragestellungen und Herausforderungen bereits erfolgsversprechende Ansätze und Ideen. Dass viele Köche nicht zwangsläufig den Brei verderben, zeigt dieses Projekt damit eindrucksvoll. Informatiker und Maschinenbauer arbeiten mit Unternehmen sowie Wissenschaftlern anderer Hochschulen zusammen. Insgesamt acht Personen bringen ihr Wissen und ihre Erfahrungen ein. Die Herausforderung sei es nun, die einzelnen Fachgebiete so zusammen zu bringen, dass es sich nicht nur im Antrag gut liest, sondern auch in der Realität gelebt wird und sich sinnvoll verzahnt. Oder, um es mit den Worten des Informatikers im Forscherteam, Jun.-Prof. Dr. Sebastian Zug, zu sagen: „Wir müssen es schaffen, das Wunder der Interdisziplinarität zu vollbringen.“

Bis der Antrag zur Weiterentwicklung des autonomen Lastenfahrrads für den Innenstadtbereich bewilligt ist, tüftelt das Team im ebenfalls durch die Bundesregierung geförderten Projekt RavE-Bike an passenden Sensoren und Aktuatoren. Im Augenblick konzentrieren sich die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit zudem auf den industriellen Bereich. „Wir werden nicht nur auf Konferenzen, sondern auch von vielen Unternehmen direkt angesprochen. Industriefirmen haben großes Interesse an einer solchen Lösung für die Mobilität ihrer Mitarbeiter auf den Geländen ihres Unternehmens."

Volkswagen bietet seinen Mitarbeitern auf dem Werksgelände zum Beispiel bereits eine Fahrradflotte an. Das Problem: Die Fahrräder sind nie da, wo sie gebraucht werden“, so Juniorprofessor Schmidt. Im Gegenzug biete die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft wie mit der TRANSPORTWERK Magdeburger Hafen GmbH ideale Voraussetzungen, um Tests im geschützten Raum auf den Werksgeländen durchführen zu können und so Schlussfolgerungen für die Nutzung im Straßenverkehr zu ziehen.

„Neben den zahlreichen Anfragen zu Kooperationen und von interessierten Unternehmen kamen zudem auch Einladungen von Messebetreibern und Fernsehsendern“, berichtet Jun.-Prof. Schmidt begeistert. Um diese jedoch wahrnehmen zu können, sei es zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh. „Ich denke, ab 2022 können wir da noch mal drüber reden. Dann so ist unsere Vision sollen die ersten autonomen Lastenfahrräder über den Breiten Weg in Magdeburg fahren.“

Stephan Schmidt über seine Arbeit als Wissenschaftler

„Das war tatsächlich ein kontinuierlicher Prozess und hat sich von allein ergeben. Nach meinem Studium war eine Stelle als wissenschaflicher Mitarbeiter am Institut für Mobile Systeme ausgeschrieben und ich hab‘ mich beworben. Ich wollte gern noch ein paar Jahre an der Uni bleiben und bin dann in den wissenschaftlichen Betrieb ‚reingerutscht‘. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass mich die Arbeit begeistert, es Spaß macht, seine eigenen Forschungsergebnisse zu präsentieren und mit Kollegen darüber intensiv zu reden auch mal bei einem Glas Wein. Einfach frei über Dinge denken und sie ausprobieren zu können. Die Freiheit in der Wissenschaft das macht für mich meine Arbeit aus.

 
Jun.-Prof. Dr. Stephan Schmidt
Otto-von-Guericke Universität Magdeburg
Fakultät für Maschinenbau
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Autor:in: Ina Götze
Quelle: GUERICKE ´18
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