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Wissenschaftler der Uni entwickeln eine Skala für die Digitalisierung (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
25.06.2021 aus 
Forschung + Transfer
Corona-Krise als Forschungschance

Survival of the fittest lautet das Prinzip der Evolutionstheorie: Wer sich am besten anpasst, überlebt. Was Charles Darwin im 19. Jahrhundert für Finkenarten auf den Galápagos-Inseln beschrieben hat, übertragen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen heute auf Digitalisierung und Wirtschaft: Digitaler Darwinismus – nur wer digitalisiert, überlebt. Auch Susanne Schmidt, Professorin für International Management an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft ist sicher: Digitale Transformation ist ein Faktor, der im Unternehmen über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Praxispartner bitten um Beratung zu digitalen Elementen und Projekten und die Praxisbeispiele, die Professorin Schmidt in der Lehre heranzieht, zeigen das deutlich. Dabei geht es um mehr als das Übertragen analoger Signale auf digitale – also vom Papier zur PDF, die sogenannte Digitization. Sie ist nur der erste Schritt in Richtung Digitale Transformation. Digitale Transformation bedeutet, nicht nur analoge Geschäftsideen mit digitalen Mitteln umzusetzen, sondern aus den Technologien neue Geschäftsideen zu entwickeln. Und dafür braucht es die richtigen Leute. Deshalb entwickelt das Team um Susanne Schmidt den großen Test: Sprechen Sie digital?

Digitale Immigranten und digitale Eingeborene

Das Team des Lehrstuhls für International Management will eine Skala erstellen, an der Unternehmen und Mitarbeiter ihre „digital fluency“ ablesen können. Wer „fließend digital“ spricht, ist nicht nur fähig, digital Informationen zu verarbeiten, sagt die Lehrstuhlinhaberin, sondern fühlt sich auch wohl im Umgang mit Technologien und interagiert mit ihnen. Digital Fluency ist zum jetzigen Zeitpunkt oft eine Generationenfrage: Jüngere Menschen, die mit Computer, Internet und Smartphone aufgewachsen sind, gehen leichthändiger mit Technologie um und können sie für ihre Zwecke einsetzen. Wer sich erst als Erwachsener in die Grundlagen reinfuchsen muss, gilt als Digital Immigrant, tut sich in der Regel schwerer, hat weniger Vertrauen. Die beiden Gruppen sind jeweils Treiber eines Digitalisierungsprozesses oder behindern ihn. Ein sinnvolles Messinstrument, wie es am Lehrstuhl für International Management entstehen soll, kann und soll zeigen, auf welcher Seite – oder auf welchem Punkt auf der Skala – Mitarbeiter stehen.

Als im Frühjahr 2020 die Corona-Krise beginnt, startet Susanne Schmidt spontan ein erstes Teilprojekt für das Vorhaben. Die notwendigen Kontaktbeschränkungen erzwingen fast überall mindestens ein Minimum an Digitalisierung: Vom Konferenzraum in die Videoschalte. Von der Teeküche zu WhatsApp. „Wir haben beobachtet, dass es einige Unternehmen gab, die sehr schnell Wege gefunden haben, mit der Kontaktminimierung zurechtzukommen“, erzählt die Wissenschaftlerin. Es gibt einige Beispiele erfolgreicher Anpassungen von großen, etablierten Unternehmen. Weniger Aufmerksamkeit erhielten die Anpassungsversuche der kleinen Unternehmen. Aus diesem Grund hat sich das Team um Professorin Schmidt stattdessen bewusst auf Kleinstunternehmen fokussiert, zunächst vor allem in Magdeburg. Mehr als 60 Unternehmen wurden anonym zu ihrem Prozess Richtung Digitalisierung befragt – ein Großteil davon lokale Unternehmen mit maximal 20 Mitarbeitern, wie Restaurants, Eventfirmen, Werbeagenturen oder Friseurbetriebe.

„Wir haben angefangen direkt im Lockdown“, erzählt Susanne Schmidt. „Es war schwierig, Leute für einen Fragebogen zu gewinnen, die ganz andere Dinge im Kopf hatten.“ Um alle Unternehmenstypen zu erreichen, hat Doktorand Toni Müller den Fragebogen auch persönlich zu einzelnen Betrieben in die Stadt getragen. In weiteren Schritten soll die Befragung deutschlandweit und dann international durchgeführt werden.

Toni Müller griff auch auf den klassischen Fragebogen zurück und konnte im Austausch mit Unternehmen zahlreiche Erkenntnisse gewinnen (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgToni Müller griff auch auf den klassischen Fragebogen zurück und konnte im Austausch mit Unternehmen zahlreiche Erkenntnisse gewinnen (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Erst digital, dann international

Die Ergebnisse werden nicht binär zeigen, ob eine Person oder ein Unternehmen „digitally fluent“ ist oder eben nicht. Es wird ein Spektrum geben, aus dem das Team dann Gruppen ableiten will. Sie wollen damit auch zeigen, dass ein höherer Grad an Digital Fluency zu einer messbar höheren Innovations- oder Motivationsfähigkeit führt. Susanne Schmidt erklärt zudem: „Wenn wir wissen, welche Charakteristika eigentlich dazu führen, dass sich Unternehmen – in welcher Form auch immer – anpassen, auch die kleinen Unternehmen, dann können wir diese Prozesse unterstützen.“ Sind es wirklich Ressourcen, die fehlen oder spielen auch verhaltenswissenschaftliche Aspekte eine Rolle? Sobald das bekannt ist, können die Forscher in der Praxis Maßnahmen anstoßen, etwa Fördermöglichkeiten aufzeigen. Die Hebel müssen dann aber Unternehmen selbst oder die Politik setzen. Deutschland hängt in der Digitalisierung hinterher: „Wir sind traditionell Vorreiter in vielen technischen Bereichen“, sagt Susanne Schmidt, „– aber nicht im Bereich Digitalisierung.“ Mit ihrem Team und ihrer Forschung will sie dazu beitragen, dass sich das ändert.

In einem zweiten Teilforschungsprojekt blickt sie gemeinsam mit Doktorand Constantin Brenner deshalb auf die Frage: Was macht digitale Unternehmen international erfolgreich? In der klassischen Management-Theorie gilt bisher, dass schnelle internationale Expansion viele Ressourcen braucht und dadurch den Unternehmenserfolg, zumindest kurzfristig, schmälert. Das könnte sich ändern, je weiter die Digitale Transformation voranschreitet. Bereits jetzt ermöglichen digitale Technologien und Produkte, dass Unternehmen ressourcensparend und schnell internationalisieren. In der Übernachtungsbranche hat es beispielsweise die Online-Plattform AirBnB geschafft, innerhalb eines Jahrzehnts Anbieter für Übernachtungen mit mehr als sieben Millionen Zimmern und Wohnungen in mehr als 200 Ländern zu werden – ohne dafür selbst physisches Kapital wie Hotelgebäude zu besitzen, erklärt Schmidt. Das stellt die etablierten Internationalisierungstheorien in Frage. Das Geschäftsmodell von AirBnB funktioniert rein digital – und würde ohne digitale Technologie gar nicht laufen. Und zum Vergleich: Das erste Hotel der heutigen Marriott-Kette öffnete 1957. Erst zwanzig Jahre später errichtete das Unternehmen den ersten Standort außerhalb der USA in Amsterdam.

Prof. Suanne Schmidt (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Suanne Schmidt (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Mut zum Wandel

Die klassische Erfolgstheorie im Internationalen Management – die langsame, schrittweise Internationalisierung – sei sehr gut mit der deutschen Kultur vereinbar, erklärt Susanne Schmidt. „Wir neigen dazu, Unsicherheit zu vermeiden“, sagt sie, „aber jeder Wandel und jede Änderung ist Unsicherheit.“ Deshalb sei Digitale Transformation einfacher umzusetzen in Kulturen, die Wandel als Chance sehen. Es ist aber auch noch unklar, ob Unternehmen mit digitalen internationalen Strategien den gleichen Erfolg haben können, wie Unternehmen die klassisch schrittweise ins Ausland expandieren. Die Wirtschaftswissenschaftler werten Daten von international tätigen Unternehmen aus, um das herauszufinden: Wie viel Umsatz machen sie? Wie schnell wachsen sie?

Wenn Susanne Schmidt im Hörsaal Internationale Konzernstrategie lehrt, spricht sie auch über Lego. Das Unternehmen war 2004 fast bankrott, schaffte es unter anderem nicht, in der digitalen Wirtschaft mitzuhalten. Lego hatte zu viele Produkte und Probleme bei der Beschaffung. Mit einem Strategie- und Kulturwandel schaffte Lego den Umschwung: Das Unternehmen vergrößerte seine IT-Abteilung, wertete Daten aus und konnte so herausfinden, wo es im Organisationsablauf hakte und was die Bedürfnisse der Kunden waren. Lego setzte dann gezielt digitale Technologien ein und entwickelte beispielsweise digitale Produkte, wie Baukästen, die mit Smartphones oder Computern interagieren und kommunizierte digital mit seinen Kunden. Lego „spricht digital“ und ist damit immer noch international erfolgreich – obwohl es sich um ein ursprünglich klassisches analoges Produkt handelt.

Die Geschichte der bunten Bauklötze ist nur ein Beispiel, das die Forschenden an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft heranziehen können, um dazu beizutragen, dass auch in Deutschland in Zukunft viel mehr digitale Erfolgsgeschichten geschrieben werden.