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Im Kontrollraum des MR-PET Systems betrachten Prof. Düzel (hi.) und Dr. Kreutz (vo.) die Beschaffenheit der Hippokampusregion (Foto: Hannah Theile / Uni Magdeburg)
20.07.2022 aus 
Forschung + Transfer
Geht da noch etwas mehr?

Stellen Sie sich einmal vor, Sie schaffen es, in unter zehn Minuten tausende Buchseiten zu lesen und das gesamte Internet zu erfassen. Sie können sich über 500 Gegenstände in einem Raum merken oder „ einfach“ die Sprache Mandarin mit all ihren Facetten lernen, in nur einer Stunde. Zu allem ist Lucy im gleichnamigen Science-Fiction-Film mit Schauspielerin Scarlett Johansson in der Lage. Weil sie im Gegensatz zu allen anderen Menschen, selbst den klügsten auf diesem Planeten, ein Vielfaches über der normalen Gehirnkapazität nutzen kann. Eine Überdosis einer synthetischen Droge führt zu dieser Bewusstseinserweiterung von Lucy. Ihre Gehirnkapazität wächst mit jeder Stunde und mit ihr verschwindet die Grenze des bisher menschlich Möglichen.

Der Film befasst sich Hollywood-like mit einer durchaus spannenden Frage: Wozu ist das menschliche Gehirn in der Lage? Und geht da noch etwas mehr? Die Antwort darauf wollen Prof. Dr. med. Emrah Düzel, Leiter des Instituts für Kognitive Neurologie und Demenzforschung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, und Dr. Michael R. Kreutz, Arbeitsgruppenleiter für Neuroplastizität am Leibniz-Institut für Neurobiologie Magdeburg (LIN), gemeinsam mit weiteren 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Standort Magdeburg im Sonderforschungsbereich SFB 1436 „Neuronale Ressourcen der Kognition“ geben. Ohne Drogen und weniger actionreich, dafür aber in über 22 Projekten mit jeder Menge Hightech-Geräten und aufgrund der Beteiligung unterschiedlichster Fachrichtungen wie Biologie, Biochemie, Psychologie, Physik, Pharmakologie und Medizin interdisziplinär. „Wir wollen herausfinden, welches Potenzial das menschliche Gehirn hat und welche neurobiologischen Prinzipien uns daran hindern, die kognitiven Fähigkeiten zu erweitern bzw. voll auszuschöpfen“, erklärt Prof. Dr. Emrah Düzel. Im Zentrum steht dabei die Erklärung der beiden Phänomene, wie Leistungsverbesserungen unterschiedlichsten Anforderungen gerecht werden und universell eingesetzt werden können – Transfer genannt – und wann sie auf Kosten anderer Fähigkeit gehen – ein Trade-off.

Dr. Michael R. Kreutz erklärt, man könne sich das lebenslange Lernen wie den ständigen Umbau eines Hauses oder ganzer Städte anstelle von Synapsen und Neuronen vorstellen: Ständig kämen neue Häuser, neue Räume hinzu, werden neu eingerichtet oder einfach wieder abgerissen, weil sie nicht mehr gebraucht werden. „Die spannende Frage ist, welche Ursachen es dafür gibt, vorhandene Informationen entweder mit neuen zu verknüpfen oder zu überschreiben.“ Ihr Forschungsfeld also: Die Milliarden von Verbindungen im Gehirn, Synapsen genannt, die uns Menschen zu dem machen, was wir sind. Immerhin haben wir es bis dato trotz scheinbarer kognitiver Leistungsgrenzen geschafft, Megastädte zu erbauen, das Internet zu entwickeln oder in den Weltraum zu fliegen.

Auf zwölf Jahre ist die Forschung in diesem Bereich angelegt, 14 Millionen Euro stellt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dafür in der ersten Förderperiode zur Verfügung, beteiligt sind auch

Am Ende wollen die Wissenschaftler verschiedene überprüfbare Theorien zur Leistungsgrenze des menschlichen Gehirns entwickelt und Methoden zur Leistungssteigerung beschrieben haben. Es wäre nicht nur in der Wissenschaftswelt eine Sensation. Von dieser Arbeit und den zu erwartenden Ergebnissen kann die gesamte Menschheit profitieren. „Das eigene Potenzial voll ausschöpfen zu können, ist wichtig für ein erfolgreiches Leben und sollte jedem möglich gemacht werden“, erklärt der molekulare Neurobiologe Dr. Michael R. Kreutz, der früher am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston arbeitete und seit 1993 in Magdeburg forscht. Er blickt allerdings schon viel weiter: „Wir werden in 20, 30 Jahren ein ganz anderes Verständnis von den Prozessen und Leistungsgrenzen im Gehirn haben als jetzt.“ Prof. Dr. Emrah Düzel ergänzt mit Blick auf seine Demenzforschung, die Erkenntnisse seien auch für ein gesundes Altern wesentlich. „Die molekularen Veränderungen der Alzheimer-Erkrankung gehen einer Demenz bis zu 20 Jahre voraus. Es gibt interindividuelle Unterschiede wie Menschen kognitive Leistungsfähigkeit trotz dieser Veränderungen lange aufrechterhalten können. Die Mechanismen dieser Reserve und deren Mobilisierung wollen wir verstehen.“

Um zu überprüfbaren Theorien zu gelangen, müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst jedoch die grundlegenden Prozesse der Plastizität und Leistungsmobilisierung im Gehirn verstehen. „Wir können zwar plastische Veränderungen während eines Lernprozesses in bestimmten Gehirnregionen sichtbar machen. Die genauen Mechanismen dahinter umfassend und systematisch zu untersuchen, das gelingt uns aktuell noch nicht“, erklärt der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Emrah Düzel. Noch nicht. Denn, wenn es Forschenden in Deutschland gelingen kann, dieses Neuland zu betreten, dann wohl den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Magdeburg zusammen mit denen der außeruniversitären Einrichtungen des Leibniz-Instituts für Neurobiologie Magdeburg (LIN) und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE). Anders als an anderen Universitäten in Deutschland stimmen die Rahmenbedingungen. Neben der neurowissenschaftlichen Expertise für Prozesse auf verschiedenen Ebenen im Gehirn - der zellulären, der synaptischen sowie der physiologischen - können die Wissenschaftler auf die notwendigen Schlüsseltechnologien zurückgreifen, die sowohl bereits für die tierexperimentelle Forschung als auch für die humanexperimentelle Forschung am Standort genutzt werden.

Dr. Michael R. Kreutz (li.) und Prof. Dr. Emrah Düzel (re.) vor dem MR-PET-System des DZNE (c) Hannah Theile Uni MagdeburgDr. Michael R. Kreutz (li.) und Prof. Dr. Emrah Düzel (re.) vor dem MR-PET-System des DZNE (Foto: Hannah Theile / Uni Magdeburg)

Eine entscheidende Rolle spielen dabei auch leistungsstarke Hochleistungsmagnetresonanztomographen (MRT), wie das 7-Tesla-MRT und demnächst das weltweit erste 7-Tesla-Konnektom-MRT. Damit kann die innerste Architektur des Gehirns und dessen Plastizität beim Menschen mit nie dagewesener Auflösung erfasst werden. Darüber hinaus erlaubt hochauflösende Mikroskopie Einblicke in die Nanowelt von Synapsen und ein Forschungszyklotron mit einem Positronen-Emissionstomographen (PET) die Darstellung molekularer Prozesse im menschlichen Gehirn. „Die Universität in Magdeburg ist in diesen für unsere Forschung notwendigen Bereichen sehr gut aufgestellt“, sagt Prof. Dr. Emrah Düzel, der seit 2011 Standortsprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in Magdeburg ist. Der 53-Jährige befasst sich seit Jahrzehnten mit der Anatomie des Gehirns sowie mit dessen Veränderungen im Alter. Dafür entwickelte er unter anderem verschiedene Bildgebungsmethoden.

Dank der Kombination von molekularen, optogenetischen, elektrophysiologischen sowie hochauflösenden mikroskopischen Verfahren können die Wissenschaftler Gedächtnisspuren über die verschiedenen kortikalen Schichten des gesamten Gehirns verfolgen und damit als Schaltkreise visualisieren. „Unser Verständnis kognitiver Prozesse ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Wir wissen mittlerweile, dass es Elementarprozesse gibt, wo diese genau ablaufen und in welche Richtung“, erklärt Prof. Dr. Emrah Düzel, der seit 2007 auch Professor für Kognitive Neurowissenschaften am University College in London ist. Dr. Michael Kreutz ergänzt: „Wir suchen nicht mehr die Nadel im Heuhaufen. Wir sind schon viel weiter.“ Kognition steht für die Gesamtheit aller geistigen Prozesse, insbesondere der Informationsverarbeitung.

Wie kommt die Maus zum Futter?

Der Erkenntnisgewinn basiert auch auf den tierexperimentellen Arbeiten des Synapsenforschers in Magdeburg. „Mit dieser Auflösung bei bildgebenden Verfahren können wir nur bei Mäusen arbeiten“, sagt Dr. Kreutz. Dafür werden den Versuchstieren unter anderem Elektroden implantiert, über welche die Aktivität von Nervenzellen in verschiedenen Hirnregionen gemessen werden. In der Verbindung mit genetischen Methoden und molekularer Bildgebung können die Wissenschaftler sehen, welche Neurone und welche Synapsen im Gehirn aktiv sind, wenn eine Maus etwa vor einem bekannten und einem unbekannten Bauklotz hockt oder welche Regionen aktiv sind, wenn die Tiere einen bestimmten Weg suchen müssen, um zum Futter zu gelangen.

Versuchsaufbau mit einer Maus (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgVor allem die Verarbeitung räumlicher Informationen bei der Gedächtnisbildung ist zwischen Maus und Mensch vergleichbar (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Das Besondere bei den Experimenten: Den beiden Wissenschaftlern ist es gelungen, ablaufende Prozesse im Gehirn auf unterschiedlichen Ebenen mit Hilfe von verschiedenen Ansätzen miteinander zu verknüpfen. Dr. Michael Kreutz spricht von einer „Verbindung zwischen synaptischer und physiologischer Engrammbildung auf mesoskopischer Ebene zu makroskopischen Prozessen". Damit wiederum sei es möglich, die Erkenntnisse für den Menschen zu übersetzen. „Das ist sonst nicht so einfach möglich." Als Engramm wird eine dauernde auch strukturelle Veränderung des Gehirns nach einer Reizeinwirkung bezeichnet. „Die Gesamtheit aller Engramme stellt das Gedächtnis dar.“ Es handelt sich um einige Milliarden.

Während der Experimente mit den Mäusen ändern die Wissenschaftler immer wieder auch die Umweltbedingungen wie Töne oder Licht sowie die physiologischen Einflüsse. Ein zentraler Untersuchungsgegenstand ist beispielsweise der Einfluss des Anti-Aging-Hormons Klotho, das vor allem in der Niere produziert wird und das massive Effekte auf die kognitiven Fähigkeiten hat. „Ohne das Hormon wird der Alterungsprozess beschleunigt. Wir versuchen zu verstehen, welche zellulären Mechanismen dafür verantwortlich sind“, erklärt der 60-Jährige. Die Wissenschaftler wollen verstehen, inwiefern die Gabe von Klotho auch die Leistungsfähigkeit verbessern kann, ob es zu einem Transfer oder zu einem Trade-off geführt hat.

Die damit verbundenen Änderungen der Plastizität des Gehirns sind wesentlich für Altersforschung, denn so können bestehende Defizite lange vor einer neurologischen Krankheit behandelt werden. Für die Diagnostik nutzen die Wissenschaftler einen speziellen Hirnscanner, ein sogenanntes MR-PET-Gerät, welches gleichzeitig molekulare und funktionelle Prozesse im Gehirn messen kann und darüber hinaus eindrucksvolle Aufnahmen des Gehirns liefert. „Wenn wir bei kognitiv gesunden Menschen bereits bestimmte Tau- und Amyloid-Ablagerungen finden, ist das ein typisches Anzeichen für eine sehr frühe Phase der Alzheimer-Erkrankung“, sagt Prof. Dr. Emrah Düzel. Dieses Phänomen soll deutschlandweit erstmals mit Unterstützung der Stadt Magdeburg im Rahmen einer großen Versuchsgruppe von Seniorinnen und Senioren der Elbestadt über Jahre und unter Anwendung verschiedener Reize – ähnlich wie bei den Mäusen – weiter untersucht werden, um zusätzliche Ansätze für eine Behandlung zu beschreiben. „Wir wollen wissen, warum es sogenannte Super-Ager gibt und wie diese es schaffen, auch mit 80 Jahren noch eine Gedächtnisleistung von 50-Jährigen zu haben und wie es Menschen gelingt, trotz Alzheimerveränderungen kognitiv leistungsfähig zu sein.“

Wissenschaftler untersucht mit modernen bildgebenden Verfahren plastische Veränderungen des Gehirns (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgDie Verknüpfung von synaptischen Verbindungen ändert sich beim Lernen und synaptische Plastizität ist eine zentrale neuronale Ressource für die kognitive Leistung. Moderne bildgebende Verfahren machen solche plastischen Veränderungen sichtbar. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Ein hohes Alter ist Lucy aus dem gleichnamigen Film übrigens nicht vergönnt, zumindest darf man nach menschlichem Ermessen den Eindruck erlangen. Denn ihre Zellen verschmelzen nach einer kurzen, aber intensiven Odyssee am Ende mit einem Computer einer Forschungseinrichtung in Paris. Während draußen Schüsse fallen, springt sie - kurz davor, 100 Prozent ihrer Gehirnleistung nutzen zu können -, durch Raum und Zeit, von der Moderne in die Kreide-Zeit vor Millionen von Jahren und wieder zurück. Kurz bevor eine Kugel ihren Kopf trifft, verschwindet ihr menschliches Antlitz. Die Frage nach ihrem Verbleib beantwortet eine Textnachricht auf einem Handy: „Ich bin überall."

Guericke facts

Autor:in: Friederike Süssig-Jeschor