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Junge Frau bei einem digitalen Therapiegespräch (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
18.04.2023 aus 
Forschung + Transfer
Die Zukunft der Therapie

Fehlende Therapieplätze, überfüllte Wartezimmer, ärztliche Versorgungslücken auf dem Land. Es ist heutzutage nicht immer einfach, medizinisches Fachpersonal zu konsultieren. Corona und die dadurch verordneten Kontaktbeschränkungen hatten die Lage weiter zugespitzt. Allerdings: Die Pandemie beförderte auch etwas, was schon seit geraumer Zeit in vieler Munde ist – die Telemedizin. Was sich dabei als therapeutische und medizinische Möglichkeiten anbahnt, ist ganz im Sinne von Prof. Dr. Florian P. Junne. Das zu untersuchen und damit die Medizin zu transformieren, gehört zu seinen Forschungsfeldern. Es sind wichtige Felder, die der Wissenschaftler bereits vor Jahren beschritten hat – und denen er sich vielfältig widmet. Nicht ohne Grund. „Es ist sehr sinnvoll, die digitale Transformation auch für Gesundheitstechnologien nutzbar zu machen“, sagt der Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Magdeburg (UMMD).

Portrait Prof. Junne (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dr. Florian P. Junne (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Bei dem Magdeburger Forscher und seinen Teams dreht sich mit Blick auf die Region viel um die Frage, wie man mit diesen neuen Technologien den medizinischen Versorgungsanforderungen im Flächenland Sachsen-Anhalt begegnen kann. Er sagt: „Die Teleberatung über Videokonsultationen hat in der Pandemie zugenommen. Aber bei flächendeckenden Telemedizin-Strukturen, die uns beispielsweise helfen, auch konkret den nördlichen Teil unseres Bundeslandes besser zu versorgen, stehen wir noch am Anfang.“ Um das zu ändern, würden alle Beteiligten von der Politik, über Krankenkassen bis hin zu den Forschenden „derzeit sehr aktiv arbeiten“.

Therapie via Zoom

Zu den vielen Bausteinen, die der Magdeburger Forscher aktuell mit bearbeitet, gehört zum Beispiel die „SUSTAIN-Studie“. Als eines von zehn Zentren beschäftigt sich die Magdeburger Universitätsmedizin unter Leitung von Prof. Dr. Florian Junne bei der bundesweiten Multi-Center-Studie mit der Wirksamkeit eines neuartigen ambulanten Therapie- und Versorgungskonzeptes mittels videobasierter Telepsychotherapie zur Rückfallprophylaxe bei Magersucht. Im Fokus stehen dabei die Nachsorge und die dauerhafte Sicherung von Behandlungserfolgen von Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa nach einer stationären Therapie.

Die Basis für die von der Universitätsklinik Tübingen koordinierten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie wurde in einer Zeit geschaffen, in der Videokonferenz für die meisten Menschen fast noch ein Fremdwort war. Unter dem Namen „Re-Start“ publizierte Prof. Junne als Teil eines Tübinger Forschungsteams um Prof. Katrin Giel bereits 2015 Ergebnisse zum Einsatz von Telepsychotherapie und konkret zur Frage, ob Patientinnen und Patienten mit der Diagnose Magersucht nach ihrer ambulanten oder stationären Therapie über Videokonferenzen eine Nachsorge angeboten werden kann. Die Antworten fielen fast durchweg positiv aus. „Die zumeist jungen Patientinnen waren damals sehr zufrieden“, erinnert sich der Wissenschaftler, der 2021 von der Exzellenzuniversität und dem Universitätsklinikum Tübingen an den Magdeburger Campus gewechselt ist. Belegt werden konnte, so der Wissenschaftler, dass die Nachsorge mittels Videosprechstunde nicht nur akzeptiert wird, sondern dass sich damit manchmal auch qualitative Barrieren reduzieren lassen. „Manchen Patienten schien es sogar teils leichter zu fallen, schwierige Themen mit ihren Therapeuten zu besprechen, wenn sie Videopsychotherapie erhielten“, erinnert sich Prof. Dr. Junne.

Die Erkenntnisse aus der Pilotstudie fließen heute in die weiterführende „SUSTAIN-Studie“ ein. Der Experte für psychosomatische Medizin, der auch als Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie (DGPM) aktiv an diesen Themen arbeitet, erklärt, warum es wichtig ist, an diesem Punkt anzuknüpfen: „Nach einem vermeintlichen Therapieerfolg kommt es mit der Rückkehr in den Beruf oder in das soziale Umfeld häufig zu Rückfällen in die Krankheit. Wir sehen einen Grund dafür auch in einer Versorgungslücke, im unmittelbaren Übergang zwischen stationärer Therapie im Krankenhaus und der ambulanten Behandlung im Anschluss.“ Die Nachsorge müsse noch besser auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten werden, um Therapieerfolge dauerhaft zu festigen.

Die Behandlung im Rahmen der „SUSTAIN-Studie“ schließt darum direkt an die stationäre Therapie an. Geschulte Therapeutinnen und Therapeuten führen dabei in acht Monaten bis zu 20 Sitzungen hauptsächlich mittels Videotelepsychotherapie durch. Derzeit befinde sich die Studie in der Durchführungs- und Rekrutierungsphase, erklärt der Experte. Heißt: In den nächsten Monaten werden weitere Patientinnen für die Studie auch in Magdeburg aufgenommen. Noch während ihrer stationären Behandlung nehmen sie einen ersten persönlichen Termin bei ihrer Therapeutin oder ihrem Therapeuten wahr. Daran schließen sich individuell ausdifferenzierte Therapiemodule an, die mittels Telepsychotherapie durchgeführt werden.

Persönlicher Kontakt weiterhin wichtig

Der Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erhofft sich von „SUSTAIN“ vor allem den Nachweis, dass mit dem Einsatz neuer Technologien weiter Barrieren abgebaut werden und sich die Reichweite von spezialisierten Behandlungen erhöhen lässt. „Was damit eindeutig nicht erreicht werden soll“, betont Prof. Dr. Junne, „ist der Abbau des persönlichen Kontaktes“. Ganz im Gegenteil. Er sagt: „In den vergangenen 30 Jahren hat vielfach die Technik die persönlichen Kontakte in der Medizin zunehmend verdrängt. Das darf uns durch die Digitalisierung nicht passieren. Wir sollten uns eher darauf besinnen, dass wesentliche Teile von Patient-Arzt-Interaktionen die direkte Beziehung brauchen. Das bleibt unsere Kernarbeit – auch mit zunehmenden digitalisierten Technologien.“

Wie diese Technologien inzwischen hierzulande in der Praxis eingesetzt werden und mit welchen Folgen, das erforschen Prof. Dr. Junne und ein Team aktuell mit finanzieller Unterstützung der sachsen-anhaltischen Landesregierung. Dabei untersuchen sie die Pandemie-Resilienz im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit und kartieren Erfahrungen niedergelassener Therapeutinnen und Therapeuten. Mit solchen Forschungen untermauert der Fachbereich von Prof. Dr. Junne die Bedeutung des Themas an der UMMD. „Die Telemedizin gehört bei uns am Campus der UMMD zu den wichtigsten Zukunftsthemen“, weiß er. „Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein bereichsübergreifendes Thema. Wir arbeiten als Universitätsklinikum und Fachkollegen Hand in Hand, um telemedizinische Interventionen vorzubereiten.“

Dass es auf vielen Feldern dabei vorangeht, beweist unter anderem ein weiteres Projekt, mit dem sich der Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Magdeburg befasst. Das durch den Innovationsfonds geförderte „STARKIDS-Programm“ unterstützt Kinder, Jugendliche und Familien, die von Adipositas betroffen sind, bei einer gesunden Gewichtsentwicklung. Das E-Health-Projekt arbeitet dabei mit einer Mischung aus digital gestützten, individualisierten Schulungseinheiten in der Kinderarztpraxis und Online-Anwendungen für Zuhause, die teils ebenfalls elektronisch auf die individuellen Bedürfnisse der Familie abgestimmt werden. Die Inhalte werden dabei auch beispielsweise spielerisch mittels „serious games“ – elektronischer Lernspiele – im häuslichen Umfeld erprobt. Alles, was an Ergebnissen herauskommt, kann für individualisierte Empfehlungen genutzt werden. „Einen Schritt in Richtung Präzisionsmedizin“ nennt der Interventions- und Versorgungsforscher das Projekt, das bei entsprechendem Erfolg in die Regelversorgung gehen könnte.

Prof. Junne bespricht mir einer Mitarbeiterin ein Forschungsprojekt (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgIn dem E-Health-Projekt „STARKIDS“ kommen digital gestützte, individualisierte Schulungseinheiten in der Kinderarztpraxis und Online-Anwendungen für Zuhause zum Einsatz. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

In dieser Richtung soll es für den Forschungsdekan auch auf anderen Feldern weitergehen, bei denen sich der Einsatz von Telemedizin wie ein roter Faden hindurchzieht. So forscht der gebürtige Stuttgarter aktuell in mehreren Forschungsverbünden an der Verbesserung der Stressprävention für mittlere Führungskräfte im Gesundheitswesen und in Unternehmen. „Hierbei zeigen sich zunehmend auch Herausforderungen durch die Digitalisierung von Kommunikation – insbesondere während der Pandemie. Erkenntnisse darüber brauchen wir, um auch künftig mit den neuen Techniken in der Arbeitswelt klarzukommen und gesund zu bleiben“, erklärt Prof. Junne eines seiner zahlreichen Forschungsfelder.

In einem weiteren, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten, Projekt untersucht sein Fachbereich in Zusammenarbeit mit der TU München und in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Halle (Saale) die Langzeitfolgen von Covid-Erkrankungen. Entstehen soll hierbei ein Therapiemodul für Patientinnen und Patienten, das helfen soll, psychosoziale Folgestörungen durch die Infektion beziehungsweise bei Long-Covid bestmöglich zu behandeln – auch dieses Angebot soll natürlich als Teleintervention erprobt werden.

Wenn Prof. Junne über seine Visionen bei der Präzisionsmedizin spricht, nennt er die Chancen von intelligenten Assistenzsystemen, die unter anderem neben Früherkennung auch hilfreiches Feedback für Patientinnen und Patienten mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen anbieten können. Er sieht insbesondere auch die künstliche Intelligenz und „machine learning“, als vielversprechende Möglichkeiten mit deren Hilfe „evidenzbasierte Einzelfallentscheidungen zu individualisierten Behandlungs- und Therapiestrategien (Präzisionsmedizin) – auch in der Psychotherapie – entwickelt werden können“. Er sieht dadurch bessere und individuellere Vorhersagen zur Wirksamkeit von Therapien. Und er sieht, dass Betroffene, egal, wo sie wohnen und wie mobil sie sind, besser medizinisch und psychotherapeutisch versorgt werden können.

Der Wissenschaftler ist sich sicher, dass „dies keine ferne Zukunftsmusik“ ist und plädiert dafür, „die digitale Transformation für die Weiterentwicklung einer patientenorientierten Medizin bestmöglich zu nutzen“. Er sagt: „Transformation war und ist stets ein Ausdruck unseres menschlichen Gestaltungs- und Entwicklungswillens, der uns über die gesamte Evolution hin ausgezeichnet hat. Jetzt müssen wir die nächste Stufe der Digitalisierung menschengemäß miteinander gestalten.“

Guericke facts

Autor:in: Manuela Bock
Quelle: GUERICKE ´22