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drei Studierende stehen an einem Tisch auf dem Campus und schauen sich gemeinsam etwas auf einem Laptop an (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
10.01.2023 aus 
Forschung + Transfer
Verbinden paralleler Welten

Haben Sie schon einmal etwas vom "Stuttgarter Modell“ gehört? Nur die wenigsten können mit diesem Begriff wohl etwas anfangen, dabei ging es um einen Meilenstein in der Ausbildung der nächsten Generationen. Denn in den 70er Jahren entstand in Baden-Württemberg in Anlehnung an das traditionelle duale System der Berufsbildung die Idee, die akademische Bildung mit einer praxisnahen Ausbildung in einem Studiengang zu verbinden. Der Modellversuch des sogenannten dualen Studiums wurde von den Abiturientinnen und Abiturienten so gut angenommen, dass bald darauf die Modellversuchsphase für erfolgreich beendet erklärt und die in diesem Rahmen gegründeten Berufsakademien fest im Bildungssystem verankert wurden. Und schaue man sich Statistiken vom Bundesinstitut für Berufsbildung an, werde schnell klar, dass die Nachfrage nach dualen Studiengängen seitdem deutschlandweit stetig gestiegen ist, so Prof. Dr. Dina Kuhlee vom Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Derartige hybride Angebotsstrukturen im Schnittbereich zwischen akademischer und beruflicher Bildung gewinnen zudem auch international an Attraktivität. „Dennoch wissen wir empirisch gesichert sehr wenig über duale Studiengänge und ihre Studierenden“, so die Bildungsforscherin. „Deshalb vergleichen wir in unserem internationalen Forschungsprojekt ,Int-Hybrid‘ hybride Studiengänge in Deutschland, England und Österreich. Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, untersuchen wir vor allem die Ziele und Erwartungen von Bildungspolitik und Anbietern dieser Studiengänge, die institutionellen Rahmenbedingungen solcher Studienangebote und den Studienerfolg.“

Akademische trifft berufliche Bildung

In Deutschland gibt es, historisch gewachsen, eigentlich eine klare Trennung zwischen dem akademischen und dem beruflichen Bildungssektor. „Im Prinzip handelt es sich um parallele Welten. Dahinter steckt auch die traditionelle Vorstellung in Deutschland, dass wir für bestimmte Tätigkeitsfelder akademisches Wissen brauchen, für andere Tätigkeitsfelder aber anwendungs- und handlungsorientiertes Wissen, was eher mit der beruflichen Bildung assoziiert wird“, so Prof. Dina Kuhlee. „Es zeigt sich jedoch: Die Trennung von akademischem und handlungsorientiertem Wissen funktioniert nicht und die veränderten, zunehmend höheren Qualifikationsanforderungen der Wirtschaft an berufliche Fachkräfte lassen die Frage aufkommen, inwiefern sich akademische und berufliche Bildung aufeinander zubewegen müssen“, erklärt die Wirtschaftspädagogin weiter. Und das täten sie ja auch bereits im Sinne einer wachsenden Durchlässigkeit zwischen den beiden Bildungssektoren. „Beispielsweise werden Hochschulzugangsberechtigungen zunehmend im berufsbildenden Bereich erworben, nicht mehr nur klassisch in Gymnasien. Der Hochschulzugang ist zudem heute auch ohne Hochschulzugangsberechtigung möglich. Universitäten verändern ihr Studienangebot und werden anwendungsorientierter. Berufliche Bildungsangebote werden inhaltlich anspruchsvoller.“ Insbesondere die dualen Studiengänge seien ein klares Beispiel dafür, dass sich die beiden Sektoren aufeinander zubewegen, weil sie Angebote verzahnen, die sich sowohl im Sektor der beruflichen als auch der akademischen Bildung bewegten.

Portrait Prof. Kuhlee (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dina Kuhlee (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Interessant an dualen Studiengängen sei nach Ansicht von Kuhlee vor allem, dass sie das Konzept der dualen Berufsausbildung in die akademische Welt übertragen. „Im Grunde wurde die Idee der Dualität der traditionellen Ausbildung übernommen. Dabei werden nicht nur betrieblich-praktische Ausbildungsanteile in Unternehmen mit theoretisch-akademischen Ausbildungsteilen in Hochschulen verzahnt, die Studierenden haben analog zu Auszubildenden im klassischen dualen System auch einen privatrechtlichen Ausbildungsvertrag mit dem Unternehmen und sind zeitgleich an der Hochschule eingeschrieben. Je nach Ausgestaltung des Studienprogramms wird so auf einen Bachelorabschluss hingearbeitet und gegebenenfalls zeitgleich eine klassische duale Ausbildung absolviert. Im letzteren Fall kommt die Berufsschule als dritter Lernort hinzu. Die Bewerberauswahl für die Studienplätze erfolgt primär über die Unternehmen. Und die Bewerber- und Studierendenzahlen wachsen!“ Allerdings gebe es kaum Statistiken oder Forschungserkenntnisse zu den Studienangeboten: „Es gibt nicht mal eine amtliche Statistik, die verbindlich sagen kann, wie viele duale Studiengänge überhaupt in Deutschland existieren“, so Prof. Dina Kuhlee.

Und genau dort setzt das dreijährige Projekt Int-Hybrid an. Der Fokus der Untersuchung liegt auf dem Studienerfolg der dualen Studierenden. „Dabei definieren wir Studienerfolg nicht im klassischen Sinne durch die Indikatoren Noten oder dadurch, ob die Regelstudienzeit eingehalten wurde. Wir interessieren uns eher für die subjektiven Erfolgskriterien, also zum Beispiel wahrgenommene Kompetenzzuwächse, Zufriedenheit mit dem Studiengang und ob die Erwartungen der Studierenden an das duale Studium erfüllt werden“, erklärt die Wirtschaftspädagogin. Besonders von Interesse sei es außerdem, in welcher Rolle sich die Studierenden selbst sehen: Fühlen sie sich eher dem Unternehmen zugehörig oder der Hochschule? „In der wenigen Literatur, die bereits vorhanden ist, wird vom sogenannten betrieblich-akademischen Bildungstyp gesprochen. Das bedeutet, dass diese Studierenden sowohl im berufspraktischen als auch im akademischen Feld unterwegs sind und so zeitgleich eine Berufsfähigkeit und eine akademische Identität entwickeln. Das ist eine zentrale Frage bei unserem Projekt: Wird solch ein akademisch-berufliches Selbstkonzept wirklich durch die Studierenden entwickelt und wie sieht es aus?“

eine kleine Gruppe von Studierenden im Hörsaal (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgDas Team von Prof. Kuhlee untersucht unter anderem, wie zufrieden Studierende mit dem Studiengang sind und ob ihre Erwartungen an das duale Studium erfüllt werden. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Verbindliche Standards fehlen

Dabei sei gerade die Frage nach der Vernetzung ein kritischer Punkt: Wie werden eigentlich die zwei Lernorte, also Unternehmen und Hochschule, miteinander verknüpft? Vorgegebene Strukturen oder standortübergreifende Ausbildungsordnungen, wie sie bspw. in der beruflichen Bildung durch Akteure der Bildungspolitik vorgegeben werden, gebe es nämlich nicht und damit auch keine verbindlichen Strukturen für Hochschulen und Unternehmen hinsichtlich der Ausgestaltung der dualen Studienangebote. „Implizit geht man davon aus, dass die Studierenden diese Vernetzung und Transferleistung zwischen hochschulischen und betriebspraktischen Inhalten irgendwie selbst erbringen. Uns interessiert, ob ihnen das wirklich gelingt“, so Prof. Kuhlee. Untersucht werde außerdem, wie die Unternehmen und die Hochschulen zusammenarbeiten, um duale Studiengänge zu ermöglichen. Bei einer klassischen beruflichen Ausbildung ist es wie gesagt so, dass es für jeden staatlich anerkannten Ausbildungsberuf eine einheitliche Ausbildungsordnung und dazugehörige Rahmenlehrpläne gibt, diese Ordnung wird ausgehandelt durch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, dem Land und Bund. Duale Studiengänge haben so etwas nicht, was die Vergleichbarkeit sowie eine gleichbleibende Qualität folglich sehr schwierig macht.

Dennoch spielen für den Erfolg dualer Studiengänge unterschiedliche Akteure eine Rolle. Aus diesem Grund erfolgen die Untersuchungen des Projektes Int-Hybrid auf drei Ebenen:

Die Forschenden haben diese drei Schwerpunkte gewählt, um untersuchen zu können, ob Bildungspolitik, Unternehmen und Hochschulen sowie Studierende unterschiedliche Perspektiven auf das duale Studium haben. Unterscheiden sich die Erwartungshaltungen? Woran machen die drei Gruppen Studienerfolg fest? Am Ende möchte das Team um Prof. Kuhlee Aussagen darüber treffen können, wie duale Studiengänge gestaltet werden sollten, damit sie zu den Ergebnissen führen, die sich die unterschiedlichen involvierten Akteurinnen und Akteure erhoffen.

Dafür führen die Wirtschaftspädagoginnen und -pädagogen Experteninterviews mit Vertreterinnen und Vertretern der Bildungspolitik sowie der anbietenden Unternehmen und Hochschulen durch. Die Untersuchung zu den Studierenden findet via Fragebogenerhebungen und einer Online-Tagebuchstudie statt. „Dort geht es uns primär um die Frage des akademisch-beruflichen Selbstkonzepts, um die Wahrnehmung von Transfer und Vernetzung, und dazu gehören auch die Studienerfolgswahrnehmungen. Und dann haben wir noch eine Online-Tagebuchstudie etabliert, um in die Tiefe des Lern- und Studierendenhandelns hineinzuschauen“, beschreibt Prof. Kuhlee. Die Forschenden begleiten sozusagen die Studierenden mit Hilfe dieser Online-Tagebuchstudie über ein Semester, um genaue Informationen zum Lernhandeln und Zeitinvestitionshandeln zu erhalten. In was investieren die Studierenden eigentlich ihre Zeit und mit welchem Ziel? Mit welchem Lernverhalten gehen sie an die Aufgaben in Betrieb und Hochschule heran und mit welchen Ergebnissen? Wie erfolgreich nehmen sie sich in diesen Studiengängen wahr? Gibt es Präferenzen in die eine oder andere Richtung dieser dualen Gestalt oder bewerten die Studierenden beide Settings, also Betrieb und Hochschule, als gleichwertig?

Teamfoto von Edgar Hahn, Prof. Dr. Dina Kuhlee, Johanna Telle Zips, Lisa-Marie Brand  (v. l. n. r.) (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgDas Team von Prof. Kuhlee: Edgar Hahn, Prof. Dr. Dina Kuhlee, Johanna Telle Zips, Lisa-Marie Brand  (v. l. n. r.) (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Das Ziel der Studie ist es, nicht nur Aussagen für den deutschen Angebotskontext zu erhalten, sondern auch länderübergreifend und somit international-vergleichend zwischen Deutschland, England und Österreich Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu ergründen. Die Wahl sei auf England und Österreich gefallen, da es in den beiden Ländern ähnlich strukturierte hybride Studienangebote wie in Deutschland gäbe: In Österreich wird beispielsweise explizit auf das Konzept der dualen Studiengänge in Deutschland zurückgegriffen. Seit 2015 gibt es in England die sogenannten Degree Apprenticeships, die deutliche Parallelen zu den dualen Studiengängen in Deutschland aufweisen.

Der vergleichende Blick mache vor allem deshalb Sinn, so Kuhlee, weil die Debatten um solche hybriden Studiengänge zwischen beruflicher und akademischer Bildung auch andernorts beginnen. „Duale Studiengänge sind offensichtlich kein deutsches Phänomen, obwohl man das vielleicht erstmal durch die Anlehnung an die duale Ausbildung vermuten könnte. Aber tatsächlich ist es eine internationale Debatte um die Frage, wie sich berufliche und akademische Bildung zueinander verhalten. Und je nach Ausgangspunkt kann die Gestaltung dieser Studiengänge sehr unterschiedlich aussehen. Wir wollen also einerseits untersuchen, welche Debatten in unterschiedlichen Ländern geführt werden und andererseits, welche Konzepte implementiert werden und wie erfolgreich diese sind.“

Um diese international-vergleichende Forschungsperspektive über die drei Jahre realisieren zu können, kooperieren die Magdeburger Forschenden mit

„Unsere Ergebnisse möchten wir dann den Anbietern zur Verfügung stellen und in die bildungspolitischen Debatten geben, da es einen großen Bedarf nach Informationen über Gestaltung und Erfolg hybrider Studienangebote gibt.“ Die Ergebnisse sollen außerdem Aufschluss darüber geben, was an bildungspolitischer Förderung notwendig wäre. Denn durch die sich wandelnden Anforderungen an Fachkräfte stellt sich die Frage: Wie genau muss die Annäherung zwischen beruflicher und akademischer Bildung aussehen? Welche Schnittstellen und Infrastrukturen müssen geschaffen werden? Hybride Studienangebote sind nur eine Facette davon. „Es gibt auch andere Ideen, wie sich die beiden Sektoren annähern können und wie zwar keine Gleichartigkeit, aber eine Gleichwertigkeit zwischen beruflicher Bildung und akademischer Bildung gefördert werden kann. Es ist einiges in Bewegung und es wird immer wichtiger, die Frage zu stellen, wie die Strukturen langfristig aussehen können“, so die Wissenschaftlerin.

Dabei wird es auch darauf ankommen, welche Rolle den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren, die traditionell die berufliche Bildung mitgestalten – die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die Landes- und Bundespolitik –, in diesen Strukturen zukommt. „Wir werden sehen, wie sich dieser Schnittbereich zwischen akademischer und beruflicher Bildung entwickelt und wo er sich platziert in unserem Bildungssystem. Ich bin davon überzeugt, dass es hier Bewegung geben muss, weil der Bedarf da ist, über das Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung neu nachzudenken“, so Prof. Dina Kuhlee abschließend. „Mit unserer Forschung und unserem Projekt können wir für die Gestaltung dieses Wandels einen Beitrag leisten.“

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