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Prof. Dr. Marlin Ulmer (c) Jana Dünnhaupt Uni Magdeburg
03.07.2023 aus 
Forschung + Transfer
Lieferservice der Zukunft

Pizza, Pakete, Filme – in unserer Zeit können wir alles jederzeit haben, vor allem, wenn wir in der Stadt leben. Viele Bedürfnisse können und sollen in kürzester Zeit befriedigt werden. Das gilt insbesondere in Städten. Für viele Dienste und Produkte müssen wir nicht einmal unsere Wohnung verlassen. Aber wie funktioniert das eigentlich? Dienstleistungsfirmen oder besser gesagt deren Angestellte warten nicht darauf, uns unsere Pakete jetzt sofort zu bringen. Oder diese eine Chipssorte aus dem Supermarkt zu uns an die Haustür zu liefern, auf die wir gerade Appetit haben. Denn es kann kaum wirtschaftlich sein. Dennoch gibt es mittlerweile viele Unternehmen, die das anbieten. „Bei innerstädtischen Dienstleistungen gibt es die Transformation hin zu On-Demand“, sagt Prof. Dr. Marlin Ulmer von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft. Die Bedürfnisse würden immer schneller befriedigt. Die Planung im Unternehmen wird aber schwieriger, weil es viele Unsicherheiten gibt. Sie wissen, dass sie nichts wissen: Kunden buchen vergleichsweise unvorhersehbar, Fahrer oder Lieferanten können Auftragsangebote ablehnen, die Flotte kann zu klein, zu groß oder gerade weit entfernt sein. Wie Unternehmen diese Unsicherheiten in Zukunft besser bedienen können, erforscht Prof. Dr. Marlin Ulmer an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg mit seinem Team am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Management Science.

Unternehmen können nie genau voraussagen, wann jemand eine Taxifahrt, eine Supermarktlieferung oder andere Dienstleistungen bucht. Sie wissen zudem oft nicht genau, wie sich die Verkehrslage entwickelt oder ob ihr Team jeden Auftrag annimmt. „Natürlich gibt es schon länger Unternehmen, die ähnlich arbeiten wie Kurierdienste und profitabel sind“, sagt Ulmer. Mit der richtigen Planung sei das möglich „und die haben Leute, die auch sehr erfahren sind.“ Ulmer vergleicht die Problemstellung in seiner aktuellen Forschung mit Spielen, weil beide stochastisch-dynamisch sind. Er sagt: „Stochastisch bedeutet: Wir haben Unsicherheiten. Dynamisch heißt, dass wir nicht einen Plan haben, den wir umsetzen, sondern, dass wir immer reagieren müssen.“ Man kann meistens nicht voraussagen, was der Gegner tut und wie man danach weiterspielen kann. Dennoch kann man eine Strategie entwickeln und vorausschauend entscheiden.

Neben der „klassischen“ Unsicherheit im Bedarf, gibt es zunehmend weitere Unsicherheiten, die in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen. So arbeiten in vielen neuen Dienstleistungsmodellen Fahrerinnen und Fahrer zum Beispiel nicht in Schichten oder zu festen Arbeitszeiten, sondern in Einsätzen. Man nennt das „gig economy“. Ein bekanntes Geschäft sind zum Beispiel Mitfahrten, die man über eine App buchen kann, die der Fahrer oder die Fahrerin aber auch ablehnen kann. In anderen Ländern wie den USA oder China sind solche Arbeitsmodelle deutlich häufiger zu finden als in Deutschland. Die Teammitglieder bekommen von den Unternehmen „Gigs“, also Einsätze, angeboten – die sie auch ablehnen können. Das passiert ebenso kurzfristig wie Kundinnen und Kunden etwas nachfragen. Prof. Ulmer beschreibt das Problem: „Die Unternehmen reagieren immer nur.“ Trotzdem müssen sie betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen und sowohl verlässlich als auch profitabel operieren. Dabei soll die Forschung von Prof. Ulmer und seinem Team Unternehmen unterstützen. Ulmer hat Mathematik studiert und in der Wirtschaftsinformatik promoviert. Schon dabei hat er an betriebswirtschaftlichen Fragestellungen gearbeitet.

Prof. Dr. Marlin Ulmer am Schreibtisch (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dr. Marlin Ulmer (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Nun forscht er mit seiner Emmy-Noether-Gruppe an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg an Algorithmen für Unternehmen, die in Städten Dienstleistungen anbieten. „Urbane Mobilität und Logistik“ heißt sein DFG-Projekt. Unternehmen, die spontane Services anbieten, sollen in Zukunft flexibel arbeiten können. Dafür gibt es laut Ulmer bisher keine generellen Lösungen. Das Team leistet Pionierarbeit und geht dabei in der Forschung auch iterativ vor: Versuch macht klug! Da es bisher kaum Forschung zu den Unsicherheiten bei städtischen Dienstleistungen gibt, gibt es auch keine Strukturen dafür, weder technisch, noch methodisch. Ulmer sagt: „Es gibt Veränderungen in der realen Welt: spontaner, schneller, unsicherer. Und das spiegelt sich auch in der Methodik wider.“ Und es gibt Interesse von Unternehmen. Als Wissenschaftler will der Professor aber zunächst theoretische Grundlagen schaffen, also Optimierungsverfahren entwickeln, die zunächst in der Modellwelt funktionieren. Auf dem Weg dahin analysiert das Team auch, was genau sich durch die Optimierung verändert – zum Beispiel Wartezeiten der Kunden. Sie wollen sehen, wie man mit Problemen umgehen kann. Und was Vorteile gegenüber der Konkurrenz sein können. Am Ende steht die große Frage: Wie treffe ich richtig Entscheidungen?

Und das Team sucht nach neuen Wegen, Mobilität und Logistik in der Stadt sinnvoll zusammenzubringen – etwa indem kommerzielle Fahrgemeinschaften oder Gemeinschaftstaxis auch Produkte befördern. Es gibt sogar Überlegungen, den Öffentlichen Personennahverkehr einzubinden, also Busse, Straßen- oder U-Bahnen auch für Transporte zu nutzen. So soll die Mobilität und Logistik in der Stadt auch flexibler werden. Die Idee hinter solchen Ansätzen ist, dass es eine Flotte gibt, die umgenutzt werden kann, wenn Kapazitäten im Hauptbetrieb frei werden, also wenn Fahrzeuge rumstehen. Und dabei geht es nicht nur um Pizza, sondern auch um Krankentransporte und Schlüsseldienste oder die sogenannte „shared mobility“, zum Beispiel flexible Fahrrad- oder Automobilleihsysteme. Auf dem Weg zu Lösungen spielen die Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit unterschiedlichen Konzepten, bei denen sie auf vorhandene mathematische Forschung zurückgreifen. Dazu gehören Versuche, vielversprechende Entscheidungen zu identifizieren und in der Optimierung künstlich aufzuwerten. Aber das Team arbeitet auch mit Simulationen möglicher Szenarien in der Zukunft, um Entscheidungen anhand der simulierten Ergebnisse zu bewerten. „Das funktioniert jetzt besser, weil wir mehr Daten haben und mehr Rechenpower“, so Ulmer. Außerdem wird Maschinelles Lernen eingesetzt, um Problemstrukturen zu identifizieren und auszunutzen.

Es ist dieses „Rätsel-lösen“, was den Professor, der als Mathematiker angefangen hat, in die Wirtschaftswissenschaft zieht – das Spielerische. In der Mathematik findet man auch Unsicherheiten in der Optimierung, allerdings oftmals in idealisierter Form. „Aber die Welt ist eben nicht so schön glatt“, weiß Ulmer. In der Wirtschaftswissenschaft kann er selbst Strategien entwickeln, Methoden und Verfahren. In einem kleinen ersten Schritt hat das Team zum Beispiel herausgefunden, dass Kunden, die sich Essen liefern lassen wollen, sehr häufig aus den ersten fünf bis zehn Angeboten auf einer Webseite auswählen. „Ich hätte gedacht, es gebe so zwei drei Restaurants, die man immer wieder wählt“, sagt Ulmer. Solche Erkenntnisse könne man in Zukunft nutzen, um Kunden bei ihren Entscheidungen in die richtige Richtung zu stupsen – vielleicht dahin, dass sie dort bestellen, wo auch die Nachbarn gerade bestellt haben. So löst er auf dem Weg zu Entscheidungsverfahren immer kleine Rätsel, etwa wenn Maschinelles Lernen zum Einsatz kommt: „Da schaut man sich die Lernkurve an und die sollte immer besser werden, weil die Maschine lernt. Häufig wird sie aber schlechter, vielleicht, weil die Maschine zusätzliche Informationen benötigt.“ Diese Rätsel müsse man dann lösen. Selbst programmiert der Professor nur noch wenig, dafür die Promovierenden. Sie packen Ideen in Algorithmen, programmieren das Problem und implementieren und testen dann Verfahren. So erfahren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was für ein betriebswirtschaftliches Problem wichtig ist. Denn bisher können Unternehmen, die auf sofortige Bedürfnisbefriedigung setzen, kaum nachhaltig sein, sagt Marlin Ulmer – weder in Hinblick auf die Umwelt, noch finanziell. Ob und wie das gelingen kann, möchte er mit seinem Team herausfinden.

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Autor:in: Julia Heundorf
Quelle: GUERICKE '22
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