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08.05.2023 aus 
Forschung + Transfer
Europa in der Krise?

Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Brexit, Coronakrise, Energiekrise – seit über einem Jahrzehnt ist Europa im Krisenmodus. Doch was sind die Ursachen, was die Folgen? Hat Europa ein systemisches Problem? „Die EU ist nicht irgendeine Entscheidungsmaschine, die Politik ausspuckt“, sagt die EU-Expertin und Inhaberin des Monnet-Lehrstuhls der Universität Magdeburg, Prof. Eva Heidbreder. Sie erforscht europäische Transformationsprozesse und erklärt im Gespräch, wie aus wissenschaftlicher Sicht die Krisen als Triebfeder Europa stark verändert haben.

Portrait Prof. Eva Heidbreder (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Eva Heidbreder (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Frau Prof. Heidbreder, wir erlebten die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, den Brexit, die Coronakrise und nun die Ukraine- bzw. Energiekrise, ganz zu schweigen von der Klimakrise, ist Europa im Dauer-Krisenmodus?

Ja, das stimmt! Aber ich bin versucht, mit einem Bonmot zu antworten: ‚Das ist das Leben‘. Auch in der Vergangenheit haben Europa und die Europäische Gemeinschaft sehr viele Krisen gesehen, oft waren sie der Grund für weitere europäische Integrationsprozesse. Die meisten der momentanen Krisen sind allerdings nicht auf die EU beschränkt und es ist auch klar, dass sie nicht schnell verschwinden werden. Es scheint also eher so, dass die letzten dreißig Jahre, in denen die Welt nach dem Kalten Krieg zumindest geopolitisch vielen in Europa so ruhig und geordnet erschien, die Ausnahme waren.

Eine Krise bezeichnet laut Duden den Höhepunkt bzw. Wendepunkt eines gefährlichen Konfliktes, verursacht durch eine massive und problematische Funktionsstörung. Hat Europa ein systemisches Problem?

Funktionsstörungen haben unterschiedliche Ursachen: Entweder ist das System fehlerhaft, es produziert also selbst endogen die Krise. Häufig werden Krisen aber durch Ereignisse von außen ausgelöst, wir nennen das exogene Schocks. Es ist also wichtig, die Krisenursache richtig zu bestimmen. Eine Vielzahl der Krisen, mit denen die EU befasst ist, ist nicht ursächlich durch die EU ausgelöst. Aber die Art und Weise, wie die EU funktioniert, kann eine Krise verstärken oder eben Lösungen ermöglichen. Schauen Sie sich die globale Banken- und Finanzkrise nach 2008 an. Akute Ursache war der externe Schock der Lehman-Pleite und das Platzen der US-amerikanischen Immobilienblase. Das strukturelle Problem hinter dem folgenden Banken-Crash, also die Dynamiken eines unterregulierten und global vernetzen Finanzmarkts, bestand aber auch in Europa und so kam es auch in Irland zu ersten Crashs. Die Ursache war in diesem Kontext nicht die Eurozone. Aber wegen der Bauart der Eurozone und vor allem den politischen Entscheidungen der Regierungen während der Anfangsphase der Krise, wirkte der Euro zunächst wie ein Brandbeschleuniger. Ist das ein systemisches Problem? Ja und nein, denn die starke Abhängigkeit der Euro-Staaten voneinander führte schrittweise auch dazu, dass sie gemeinsame Lösungen suchen mussten. Mit der Bankenunion wurde für die Eurozone ein neues Instrument geschaffen und bisher hat dieses Instrument in der Coronawirtschaftskrise, die ebenso groß wie die 2009 ist, die Eurozone geschützt. Außerdem sehen wir im Umgang mit den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise auch einen Lernprozess. 2021 wurde ein Fonds geschaffen, der vor allem den wirtschaftlich schwachen Staaten in der EU durch die gemeinsame Aufnahme von Schulden Entlastung schafft. Die Antwort, die 2021 gegeben wurde, war also radikal anders als die von 2009. Unter dem Strich ist die Frage also nicht so sehr, ob die EU ein systemisches Problem hat. Die Frage ist, ob sie ein System ist, dass Krisen bewältigen kann. In der Euro-, der Corona- und der Ukrainekrise bin ich davon überzeugt, dass die EU einen extrem wichtigen Handlungsrahmen zur Kooperation geboten hat, der bei der Bewältigung der Krisen half. Und auch in der Klimakrise bietet das EU-System Möglichkeiten der Kooperation, ohne die wir die Herausforderungen nicht bewältigen können. Allerdings nützen all diese Kooperationsarenen nicht viel, wenn die zentralen Akteure – und das sind die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten – nicht wollen. Das zeigt sich vor allem schon seit Jahrzehnten beim Finden von Lösungen für den Umgang mit Geflüchteten und Migration.

Die EU ist in der Wahrnehmung vieler unzugänglich, undurchsichtig, überreguliert und bürokratisch. Sind unsere Krisen hausgemacht?

Die EU ist in vielen Bereichen bürokratisch und, ja, wer sich im Alltag mit der Umsetzung von EU-Regulierungen befasst, hat auch häufig Grund zum Stöhnen, ich nenne nur das Stichwort „Beschaffung“. Aber: Sind das wirklich Krisenauslöser? Wir müssen vorsichtig sein, Fragen von Transparenz oder Zugänglichkeit oder sonstige berechtigte Kritik nicht zur Krisenursache umzudeuten. Denn die Frage ist auch hier eher, ob die Schwächen eines Systems es diesem unmöglich machen, auftretende Krisen zu bewältigen. Und hier hat sich die EU in den letzten Jahren extrem widerstandsfähig gezeigt. Sie ist nicht an der Banken- und der daraus folgenden Fiskalkrise zerbrochen, sondern hat eine Bankenunion aufgebaut. Sie ist nicht am Brexit zerbrochen, sondern hat die Einigkeit zwischen den EU-27 verstärkt und war sehr transparent. Und bei allem Gemäkel: Die gemeinsame Beschaffung von Covid-Impfstoffen wäre nicht besser gelaufen, hätten sich die 27 Staaten gegenseitig Konkurrenz gemacht. Es hat nämlich nicht die EU die Verträge mit den Pharmaunternehmen gezeichnet, sondern es waren die Mitgliedstaaten, die jeweils das, was sie wollten, auf die Bestellliste geschrieben haben. Falls falsch bestellt wurde, war das also im besten Falle eine Gemeinschaftsleistung, aber schneller hätten einzelne Staaten nur Impfstoffe erhalten, wenn sie andere in der EU ausgebootet hätten. Gut, dass das nicht der Fall war. Die EU ist nicht irgendeine Entscheidungsmaschine, die losgelöst von den EU-Staaten Politik ausspuckt. Sie ist die Summe der Kompromisse zwischen EU-Institutionen, vor allem zwischen Parlament und Kommission und den Regierungen unserer Staaten. Als Plattform, um Kompromisse zu schaffen, ist die EU in der Tendenz eine großartige Möglichkeit, Krisen zu beackern. Aber sie scheitert immer dann, wenn keine Kompromisse zustande kommen oder gar der politische Wille zur Einigung fehlt.

2015 kam die Flüchtlingskrise, deren Management zu einem wesentlichen Konflikt in der EU führte. Die Zuwanderung von 4 Millionen Menschen belastete das gemeinsame Asylsystem, die Staaten konnten sich nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Polen, Ungarn, die Slowakei und die Tschechische Republik verweigerten die Umsetzung von Quotenlösungen. Was hat Europa daraus gelernt?

Die EU kann seit 1996 eine gemeinsame Asylpolitik gestalten, seither hat die EU die Kompetenz, hier tätig zu sein. Die Kommission hat in diesem Zusammenhang unzählige Gesetzespakete vorgeschlagen, die aber alle daran gescheitert sind, dass es unter den Mitgliedstaaten keine Einigung gab. Wir haben seit langem eine Pattsituation: Die bestehenden Dublin-Regeln legen fest, dass erst einmal die Staaten, in denen Menschen ankommen, für sie zuständig sind. Aber diese Ankunftsstaaten sind in der EU in der Minderheit. So ist keine Mehrheit für eine Veränderung der Regeln zu schaffen, um eine gleichmäßigere Verteilung zu erreichen. So geht das seit Jahrzehnten. Die angesprochene Quotenregelung kam außerdem für die EU etwas seltsam zustande. Anders als üblich, haben die Staaten, die Bedenken gegen die Regelung hatten, diese nicht im Vorfeld der Koordinierung mitgeteilt und so wurde diese Regulierung schnell auf Botschafterebene beschlossen, statt sie bis zur politischen Ebene der Minister zu eskalieren. Ungarn hat dann aber umgehend Klage dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof eingelegt – und verloren. Fehlende Solidarität ist aber nicht nur auf einige Staaten begrenzt, an diese Quotenregelung hat sich kein Staat umfassend gehalten. Einige Staaten sind besonders lautstark und vehement gegen Migration, aber es ist nicht so, dass sie allein sind. Auch der durchaus andere Umgang mit geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainern ändert im Kern nichts an der insgesamt festgefahrenen Situation in der EU-Migrationspolitik.

Im Ergebnis der Flüchtlingskrise hatte die EU 2020 den Brexit zu verkraften, vor dessen Folgen von beiden Seiten des Ärmelkanals eindringlich gewarnt wurde. Wie sehen Sie mit ein wenig Abstand die Situation für die EU?

Für die EU ist der Brexit wirtschaftlich weitestgehend abgeschrieben, das politische Tagesgeschäft geht weiter, wichtige Weichenstellungen für die Zukunft der EU sind auch ohne das Vereinigte Königreich erfolgreich getroffen worden. Aber unter der Oberfläche brodelt der Brexit weiter, vor allem, weil die britische Regierung weiter von dem Versprechen zehrt, den Brexit geschafft zu haben und auch weiter durchsetzen zu wollen. Konkret stellt die Nachfolgerin Johnsons als Premierministerin, Liz Truss das Nordirlandprotokoll grundsätzlich in Frage und droht, das Abkommen einseitig zu kündigen, was sogar zu einem Handelskrieg mit der EU führen könnte, von den Sicherheitsgefahren für die innerirische Grenze ganz zu schweigen. In der Summe heißt das: Im Alltagsgeschäft hat sich die EU sehr gut mit dem Brexit abgefunden. Aber die angespannten Beziehungen zu unserem so wichtigen Nachbarn, dem Vereinigten Königreich, belasten einzelne Bereiche, wie zum Beispiel die Forschung, und haben auch immer noch eine grundsätzliche Dimension, weil die Frage der Einheit Großbritanniens mit dem Nordirlandprotokoll verknüpft ist und daran letztlich auch der Frieden in Irland hängt. In Brüssel erwartet man, dass diese Probleme mit Premierministerin Truss nicht leichter, sondern eher gleichbleibend schwer zu lösen sind.

Ab 2020 zogen die gegen die Coronapandemie getroffenen Maßnahmen eine Wirtschaftskrise nach sich, auf die die EU wenig vorbereitet war. Die Regelungen der Mitgliedstaaten schienen eher unkoordiniert. Die Europäische Investitionsbank (EIB) entwickelte dann ein Aufbauprogramm. Was sind die Kernpunkte?

Die Kernaufgabe der Europäischen Investitionsbank ist es, Kredite zu vergeben, was sie als Krisenantwort für Kleine und Mittelständische Unternehmen auch verstärkt getan hat. Die viel, viel wichtigere gemeinsame EU-Antwort auf die Lage war aber, dass der EU-Haushalt in noch nie dagewesener Weise erweitert wurde. Zur Erklärung: Der EU-Haushalt ist eigentlich vergleichsweise klein, Mitgliedstaaten zahlen ungefähr ein Prozent ihres jährlichen Bruttoinlandprodukts in die EU-Kasse und diese Gelder fließen dann Größtenteils durch Strukturmittel zurück in die Staaten. Dabei kann die EU immer nur das ausgeben, was vorher eingezahlt wurde. Revolutionär neu war 2021, was unter dem Titel „Next Generation EU“ firmiert: die Kopplung des EU-Siebenjahreshaushalts mit einem in der Größe noch nie dagewesenen Konjunkturpaket. Für dieses Corona-Wiederaufbauprogramm hat die EU erstmalig - und als Ausnahme zur Bekämpfung der Corona-Wirtschaftsauswirkungen – 750 Milliarden Euro Schulden aufgenommen. Diese Mittel fließen nun entlang innovationsorientierter Investitionen in die Mitgliedstaaten. Dass die EU gemeinsam Schulden aufgenommen hat und dass damit nicht nur Kredite, sondern Direktzahlungen von bis zu 340 Milliarden zum Wiederaufbau und zur Stärkung gerade der schwachen Wirtschaftsregionen fließen, ist neu und eine ganz andere Reaktion als 2009 auf die Finanzkrise.

"Ein Land kann ein Schnellboot sein. Und die EU ist mehr ein Tanker", so wird die Kommissionspräsidentin von der Leyen im Februar 2021 zitiert, als sie Versäumnisse bei der Impfstoffbeschaffung der EU einräumte. Fehlt es der EU an Instrumenten, um effektiv und zeitnah auf aktuelle Krisen wie die Pandemie reagieren zu können?

Alle Beschlüsse der EU involvieren sehr viele Akteure, an vielen Stellen können Vetos Entscheidungen be- oder ganz verhindern. Kompromisse zu finden, dauert häufig lange. Aber dennoch: Am Ende waren die EU-Mitgliedstaaten mit der gemeinsamen Beschaffung der Covid-Impfstoffe sicher besser im gemeinsamen Tanker unterwegs als mit 27 Schnellboten. Es ist längst nicht alles rund gelaufen, aber ich glaube nicht, dass es irgendwie besser gelaufen wäre, wenn 27 Staaten allein verhandelt hätten. Aber ob die EU am Ende schnell oder langsam ist, liegt nicht so sehr an Instrumenten, sondern an jenen, die entscheiden und dem, was sie wollen. Schauen wir uns ein anderes, inhaltlich mindestens so kompliziertes Politikfeld an. Am 20. Juli 2022 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für einen Energienotfallplan vor, der bereits am 26. Juli 2022 beschlossen wurde, obwohl zunächst extrem viel Uneinigkeit herrschte. Die Mitgliedstaaten, auch jene die genug Energiereserven angespart haben, sprechen sich hier gegenseitig Solidarität und konkrete Unterstützung zu. Der Kompromiss ist zwar mit Ausnahmen gespickt, aber im Kern ist man sich extrem schnell einig geworden, dass es das wichtigste Signal sein muss, dass die 27, oder genauer 26, miteinander solidarisch gegen die Herausforderungen des Ukrainekriegs zusammenstehen. Leider nur 26, weil Ungarn sich am Beschluss nicht beteiligt hat.

In mehreren EU-Staaten ist die Rechtsstaatlichkeit bedroht, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und die Wahrung der Menschenrechte sind als gemeinsame Werte festgeschrieben, dennoch verstoßen Mitgliedstaaten gegen Grundprinzipien wie Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung oder stellen die Fairness des Wahlprozesses offen infrage. Ist das Problem zu lösen?

Ob das Problem ganz zu lösen ist, wage ich nicht zu prognostizieren – auf jeden Fall ist es unmöglich, dass irgendeine Macht von außen in einen Staat hineinregiert und Rechtstaatlichkeit wiederherstellt. Das geht nicht. Was aber unbedingt gelöst werden muss, ist der Umgang der Mitgliedstaaten in der EU mit diesen Problemen. Es gibt verschiedene Mechanismen, wie eine Mitgliedschaft in der EU tatsächlich den Ausbau korrupter und autokratischer Systeme in den Staaten befördern kann. Die Vergabe von EU-Mitteln, die häufig auch zum korrupten Machterhalt dienen, ist dabei entscheidend. Der vorhin erwähnte Corona-Wiederaufbaufonds schafft erstmalig auch eine klare Konditionalität. Das heißt, dass Staaten, die sich nicht an rechtsstaatliche Prinzipien halten, kein Geld aus diesem Topf bekommen dürfen. Weitere Kontrollen gibt es zum Schutz der EU-Finanzinteressen, um Korruption zu unterbinden. Die Kommission, die die Mittelvergabe überprüfen muss, war in der Vergangenheit häufig nachlässig oder langsam mit dem Einleiten von Rechtsverfahren und dem Rückhalt von Mitteln. Ungarn droht auch unverhohlen, alle Beschlüsse, die mit Einstimmigkeit gefällt werden müssen, zu blockieren. Vor allem das Europäische Parlament, das auch die Kommission kontrolliert und massiv drängt, die neue Konditionalität anzuwenden, ruft daher nach der Abschaffung dieser nationalen Vetos. Was kann die EU also tun? Sie muss ihre Instrumente, vor allem in der Mittelvergabe, anwenden und für Blockaden alternative Entscheidungswege finden. Denn die gibt es meistens, wenn nur der politische Wille besteht. Am wichtigsten ist aber, dass autokratische Politiker abgewählt werden – das kann in Polen noch gelingen, in Ungarn ist es unlängst gescheitert und wie die Wahlen in Italien im Herbst oder die nächsten französischen 2024 ausgehen werden, ist in dieser Hinsicht auch unklar. Aber die EU ist nicht eine Macht über den Staaten, sie ist die Macht der Summe ihrer Mitgliedstaaten und Bürgerinnen und Bürger, die sich gemeinsame Regeln geben. Wenn sich die Staaten und Bürgerschaft nicht mehr daran halten, endet die EU.

Der Ausbruch des Ukrainekrieges führte zum Ausrufen der sogenannten Zeitenwende, der Verteidigungsetat wurde ad hoc auf die von der NATO geforderten 2 Prozent erhöht. Emanuel Macron indes bezeichnete die NATO als hirntot. Wie ist Ihre Einschätzung der europäischen Sicherheitspolitik in Zeiten der Krise?

Was Macron in guter französischer Tradition immer wieder propagiert, ist mehr EU-Souveränität, womit er stärkere europäische militärische Kapazitäten meint. Die EU war und ist keine starke militärische Macht. Aber auch deshalb, weil die Mitgliedsstaaten militärisch in den letzten Jahrzehnten wenig in die Landesverteidigung investiert haben. Das Schlagwort der letzten Jahrzehnte war immer die Einsatzfähigkeit und da hinken wir gemeinsam immer noch arg hinterher. Ohne die USA im Rahmen der NATO kann sich Europa nicht verteidigen. Damit wir eine eigenständige europäische Verteidigung überhaupt planen können, müssen die vielschichtigen Mängel der Bundeswehr, die leicht in den Medien zu verfolgen sind, angegangen werden. Auch hier gilt: Die EU wird in der Verteidigung stärker, wenn die Mitgliedstaaten verteidigungsfähig sind. Sinnvoll ist natürlich, dass in diesem Prozess Beschaffung, Strategieplanung, Innovation und so weiter möglichst eng koordiniert werden, wie formell nach Beginn des Ukrainekriegs im sogenannten ‚Strategischen Kompass‘ beschlossen. Unterm Strich hat der Krieg aber vor allem zu mehr Investitionen in den Staaten geführt. Das ist die Grundalge, auf der dann auf EU-Ebene kooperiert werden kann. Momentan läuft das in sehr enger Abstimmung mit der NATO, der ja weitere EU-Staaten gerade beitreten. Sollte es einen maßgeblichen Kurswechsel in den USA geben, mag daraus auch eine stärkere EU-Souveränität im Sinne Macrons werden. Dass wir aber kurz vor der Schaffung einer Europäischen Armee stünden, ist illusorisch und operativ momentan auch nicht realisierbar.

Jüngste Eurobarometer-Umfragen zeigen, dass gerade einmal die Hälfte der europäischen Bürger in der EU-Mitgliedschaft einen Vorteil für ihr Land sieht. Befinden wir uns in einer Legitimationskrise?

Die Legitimation der EU ist irgendwie immer in der Krise. Das liegt vor allem in der Form, wie wir legitimes Regieren wahrnehmen. Denn das passiert hauptsächlich durch die zentralen Entscheidungsträger, die wir kennen und denen wir zuhören und das sind die Regierungen der Mitgliedstaaten. Wir kennen das auch im Föderalismus. Es finden Landtagswahlen statt, es wird aber über unliebsame Entscheidungen der Bundesregierung abgestimmt, eben weil der Bundeskanzler doch noch bekannter als der Ministerpräsident oder gar die Landesministerinnen und Landesminister ist. Nun ist es aber so, dass Bundesregierungen immer vor allem die eigene Wählerschaft zur Wiederwahl überzeugen wollen, weshalb die Versuchung groß ist, Stärken und Schwächen möglichst positiv für die eigene Bilanz auszulegen. Daher gehen Leistungen - selten Fehlleistungen - der EU gern unter. Die Covid-Impfstoffbeschaffung wurde als Totalausfall der EU national verhandelt – das war sie nicht. Aber ich sehe nicht, wie die Bundesregierung oder gar eine der Landesregierungen die Fehler, die bemängelt wurden, hätten verhindern können. Dazu kommt noch ein anderes Problem. Weil so viele an EU-Entscheidungen beteiligt sind, ist es für Bürgerinnen und Bürger oft schwer, den oder die Verantwortlichen auszumachen. Weil die Fragen, die durch die EU verhandelt werden, aber so brisant sind und weil immer mehr Politiker und Politikerinnen im Wahlkampf eine pauschalisierende EU-Ablehnung erfolgreich einsetzen, müssen auch staatliche Entscheidungsträger klarer über ihren Anteil an EU-Entscheidungen kommunizieren. Das kann nicht ‚Brüssel‘ regeln, daran sind alle in der EU beteiligt.

Frau Prof. Heidbreder, vielen Dank für das Gespräch!

 

Hintergrundinformationen

Jean-Monnet-Lehrstühle sind mit 50.000 Euro dotiert und werden von der Europäischen Kommission in einem Wettbewerbsverfahren vergeben, um Lehre, Forschung und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Europäischen Einigungsprozess zu befördern. Benannt sind die Lehrstühle nach dem französischen Unternehmer Jean Monnet (1888–1979). Als Autor des als Schumann-Plan bekannt gewordenen Grundsatzprogramms gilt Monnet als einer der wichtigsten Initiatoren und Gestalter des europäischen Integrationsprozesses.

Eva Heidbreder ist Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Regieren im europäischen Mehrebenensystem an der Universität in Magdeburg und leitet den Studiengang European Studies. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Politikgestaltung der EU, die Umsetzung von EU-Politik sowie der zivilgesellschaftlichen Beteiligung in der EU, was u.a. Fragestellungen wie die Gestaltung des Brexit umfasst. Sie ist als Sprecherin verschiedener Arbeitskreise und Sektionen in nationalen und internationalen Fachverbänden tätig.

Autor:in: Katharina Vorwerk
Quelle: GUERICKE ´22