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Carolin Mehlmann zieht Material über die Scholle, im Hintergrund die Polarstern (Foto: Thomas Richter)
13.03.2024 aus 
Forschung + Transfer
Mathematikerin auf Polarexpedition

Wind heult um die Schiffsbrücke und ein Knacken hallt durch die eisige Luft, wenn das Schiff mit gleichbleibender Geschwindigkeit die meterdicke Eisschicht unter sich durchbricht. Wir spüren die Minusgrade im Gesicht, die Kälte beißt an der einzig unbedeckten Stelle des ansonsten mit wärmeisolierender Outdoorkleidung eingepackten Körpers. In welche Richtung wir auch schauen, überall blicken wir auf das Weiß und Blau unzähliger Eisberge vor einem endlosen Himmel, dazwischen schwimmen viele kleine und große Eisschollen auf der rauen See.

Das sind Bilder, die wohl die meisten von uns bei dem Gedanken an eine Polarexpedition vor Augen haben. In Reportagen oder Spielfilmen zigmal so gesehen, wird die Mehrheit von uns diese Erfahrung in ihrem Leben niemals machen. Ganz anders ist es bei der Mathematikerin Dr. Carolin Mehlmann von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Thomas Richter an einer zweimonatigen Expedition ins Nordpolarmeer teilgenommen. Am 2. August 2023 sind die beiden im norwegischen Tromsø auf das Forschungsschiff „Polarstern“ vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) gestiegen. Sie wurden Teil eines Teams von rund 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, das aufgebrochen war, Daten über die klimatischen Veränderungen der zentralen Arktis zu sammeln.

Dr. Carolin Mehlmann vom Institut für Analysis und Numerik der Universität Magdeburg überprüft in diesem Rahmen ein neues numerisches Modell, was sie entwickelte und was die präzise Bewegung und Größe von Meereis im Polarmeer verlässlicher simulieren und vorhersagen soll. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG mit 300.000 Euro für drei Jahre gefördert, soll das neue Meereismodell es künftig möglich machen, die Größe und Dicke einzelner Eisschollen sowie deren Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung detaillierter zu analysieren und eine präzise Vorhersage über deren Verhalten zu treffen. „Ich beschäftige mich damit, wie schnell und wohin das Eis treibt und was passiert, wenn Kräfte auf einzelne Schollen wirken. Diesen Zusammenhang möchte ich in einer Gleichung abbilden“, erklärt die Mathematikerin.

Fahrt der Polarstern durch dünnes Eis (c) Thomas RichterFahrt der Polarstern durch dünnes Eis (Foto: Thomas Richter)

Um die Gültigkeit ihres Berechnungsansatzes zu überprüfen, hat sie an der Expedition zur Arktis teilgenommen: „Wichtig war, dass mein theoretisches Modell genau das abbildet, was ich auch während der Zeit auf dem Forschungsschiff gesehen habe.“ Dafür machten Dr. Mehlmann und ihr Kollege Prof. Richter Aufnahmen von Eisschollen, um unter anderem genau zu erfassen, wie diese sich bewegen. Mit einem Computerprogramm extrahierten sie anschließend die Charakteristiken der Schollen, beispielsweise ihre Form oder Geschwindigkeit. „Darüber hinaus haben wir die Dicke der Eisschollen dokumentiert und auch die Kräfte, die auf sie wirken, also beispielsweise den Wind.“ Das Ziel war es, zu analysieren, inwiefern das bestehende Modell wirklich das wiedergeben kann, was während der Expedition praktisch beobachtet wurde und es, wenn nötig, zu kalibrieren und anzupassen.

Das Faszinierende an Dr. Mehlmanns Forschung: Sie könne die Prozesse, die sie analysiert, zeitgleich beobachten. Es sei eher ungewöhnlich für eine Mathematikerin, an einer Expedition ins Nordpolarmeer teilzunehmen, so die Wissenschaftlerin: „Als Mathematikerin gilt man immer als Theoretikerin, die so ein paar Sachen hin und her schiebt und am Schreibtisch sitzt. Aber so ist das für mich nicht. Mit meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich die Chance, etwas zu bewegen, einen Unterschied zu machen und einen Beitrag für die Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit dem Klimawandel zu leisten“, so Mehlmann. Das sei ihr schon immer wichtig gewesen. „Ich wählte darum auch ein Mathematikstudium und obwohl mein Umfeld mir riet, Lehrerin zu werden, habe ich mich bewusst für die Forschung entschieden. Vermeintliche Grenzen und Hindernisse, die mir meine Mitmenschen aufzeigen, bewirken bei mir, dass ich es erst recht unbedingt schaffen will. Außerdem möchte ich an etwas forschen, was wirklich einen klaren Bezug zu gesellschaftlichen Herausforderungen hat. Veränderungen im Meereis an den beiden Polen sind einer der deutlichsten Indikatoren für den stetigen Wandel des Klimas auf der Erde.“

Die Mathematiker Dr. Carolin Mehlmann und Prof. Dr. Thomas Richter bei einer Probenahme auf einer Eisscholle (c) Clara BurgardDie Mathematiker Dr. Carolin Mehlmann und Prof. Dr. Thomas Richter bei einer Probenahme auf einer Eisscholle (Foto: Clara Burgard)

Und die gemeinsame Expedition ins Nordpolarmeer, war nicht die erste praktische Erfahrung für die Mathematikerin: „Ich habe bereits 2017 an einer Expedition Richtung Antarktis teilgenommen, damals war ich als Unterstützung dabei. Schon da konnte man den Klimawandel deutlich sehen. Ein wichtiges Thema, dessen Folgen uns alle betreffen. Ich hoffe, mit meiner Forschung auch ein gewisses Bewusstsein dafür zu schaffen“, erzählt sie. Auch, wenn das Meereis erstmal in unserem Alltag weit weg sei, würden uns dort auftretende Veränderungen auch in Europa betreffen. Die zweimonatige Expedition zu Arktis mit einem eigenen Forschungsprojekt in diesem Jahr war nun die Erfüllung eines langgehegten Traumes der Wissenschaftlerin. „Es ist wirklich etwas Besonderes, das Meereis, das ich tagtäglich jeden Tag am Computer in Magdeburg modelliere und simuliere, mit eigenen Augen zu sehen“, erzählt die Mathematikerin.

Ihr neues Meereismodell könnte einen Unterschied für die Vorhersagen von Veränderungen an den Polen machen, denn bisherige Klimamodelle beschreiben nur, wie sich Eisschollen rechnerisch im Mittel verhalten. Hierfür werden statistische Durchschnittswerte über eine große Anzahl von Schollen verwendet. „Durch die derzeitige Erwärmung ist das Eis im Polarmeer viel loser, deswegen ist die Annahme, eine hinreichend große Anzahl von Eisschollen vorzufinden, nicht mehr überall gegeben. In den Gebieten, in denen man nicht mehr genug Eisschollen vorfindet, ist daher die Gleichung, die die gemittelte Schollenbewegung abbildet, nicht mehr richtig“, erklärt sie. Genau da setzt die Wissenschaftlerin an: Sie erweitert diese bisherigen Modelle und nutzt bei ihrem Partikel, die sich bewegen und miteinander interagieren. „Diese Partikel stehen für kleine Eisschollen. Ich modelliere also nicht mehr, wie sich alles im Großen und Ganzen im Mittel verhält, sondern wirklich die einzelnen Schollen.“ Ihr Modell sei vor allem spannend, weil es die sogenannte marginale Eiszone, die Grenzzone zwischen festem Eis am Nordpol und dem offenen Ozean, abbilden könnte, in der sich viele kleine miteinander agierende Schollen befinden. „Diese Zone wird momentan in existierenden Klimamodellen vernachlässigt. Es gibt schlicht keine Methoden, um sie darzustellen. Durch den Klimawandel wird die marginale Eiszone jedoch immer größer und mit meinem Modell wird eine Abbildung nun möglich“, erklärt die Mathematikerin. Auf der anderen Seite würde es aber auch Phänomene an den Polen geben, die man bis heute nicht erklären könne, so die Mathematikerin weiter. „Auf der Südhalbkugel, zum Beispiel, gibt es Jahre, in denen das Eis trotz Erwärmung zugenommen hat, obwohl die gängigen Modelle eine Abnahme vorausgesagt haben. Ich hoffe, dass mein Modell bald ein besseres Verständnis dieses Verhaltens liefern kann.“

Anfang Oktober 2023 ist das Forschungsschiff „Polarstern“ nach zwei Monaten auf dem Nordpolarmeer mit Dr. Mehlmann und Prof. Richter an Bord schließlich in seinen Heimathafen in Bremerhaven zurückgekehrt. Noch im Hochsommer, kurz vor der Expedition war die Mathematikerin gespannt, mit welchen Ergebnissen sie nach Magdeburg zurückkommen werde. „Ich freue mich auf die Erfahrung, auf die Möglichkeit, dort zu forschen und mich mit internationalen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Sicher ist jedoch: Die Mathematikerin möchte ihre Forschung weiterhin für die Öffentlichkeit erlebbar machen. Deswegen plant sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Fakultät für Mathematik der Uni Magdeburg ein Themenjahr „Mathematik und Klimawandel“, um insbesondere Schülerinnen und Schülern von der Expedition zu berichten und ihnen das Thema näherzubringen.

In Zukunft möchte sich Dr. Carolin Mehlmann noch anderen Aspekten ihrer mathematischen Forschung widmen und die Welt ein bisschen besser machen. „Ich habe so viele Ideen und kann verraten, dass es nicht für immer um Meereis gehen wird. Vielleicht reise ich irgendwann einmal zum Mond“, meint sie mit einem Augenzwinkern.

 

Guericke Facts

Autor:in: Lisa Baaske
Quelle: Forschungsmagazin GUERICKE