
Was bewegt die Menschen in Magdeburg? Was denken sie über ihre Stadt, ihr Leben, ihren Alltag? Neun Studierende des Masterstudiengangs Mediengermanistik an der Otto-von-Guericke-Universität wollten das genauer wissen – und haben 62 Magdeburgerinnen und Magdeburger interviewt. Daraus ist nun ein besonderer Theaterabend entstanden: „Dies, das, Ananas“ wird am 12. Juni im Schauspielhaus Magdeburg aufgeführt. Im Interview sprechen Prof. Kersten Sven Roth vom Lehrstuhl für Linguistik, Student Max Harbich und Dramaturgin Katrin Enders vom Theater Magdeburg über das außergewöhnliche Projekt.
Eine Kooperation zwischen einem Theater und einem Lehrstuhl für Linguistik erscheint auf den ersten Blick überraschend. Wie genau kam es dazu?
Kersten Sven Roth: Unser Masterstudiengang Mediengermanistik zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er Wissenschaft und Theorie stark mit Praxis- und Anwendungsbezügen verbindet. Aus diesem Grund laden wir auch immer wieder Praktiker aus relevanten Arbeitsfeldern zu uns in die Uni ein. So war im Herbst 2023 Bastian Lomsché, Dramaturg am Theater Magdeburg und Mitglied der Schauspieldirektion, in einem unserer Seminare zu Besuch. Wir kamen dabei schnell ins Gespräch über Kooperationsmöglichkeiten in Form konkreter gemeinsamer Projekte.
Apropos „Diskursräume“: Offenbar ist aus linguistischer Sicht der Terminus „Diskurs“ zentral für das, was Sie fachlich interessiert. Worum geht es da genau?
Kersten Sven Roth: „Diskurs“ ist für die Art Linguistik, die mein Team und ich hier in Magdeburg verfolgen, ein zentraler wissenschaftlicher Terminus. Einfach gesagt geht es um die Frage, wie durch die Art und Weise, wie eine Gesellschaft über zentrale Themen spricht, die Wirklichkeit dieser Gesellschaft konstruiert und überhaupt erst geschaffen wird. Zum Beispiel in Form der „Arbeitsstelle für linguistische Gesellschaftsforschung“ (AlGf) betreiben wir dabei eine sehr angewandte Forschung auf diesem Gebiet. Ich spreche da auch gerne etwas zugespitzt von einer „Real Life“-Linguistik.
Warum war es den Projektbeteiligten so wichtig, dass das Projekt Stimmen aus der „Mitte der Stadtgesellschaft“ hörbar macht?
Kersten Sven Roth: Wir wissen alle, dass das, was wir demokratische Öffentlichkeit nennen, sich – bei uns, aber auch global – in einer schweren Krise befindet. Es macht sich zunehmend das Gefühl breit, dass gar keine richtigen respektvollen Diskussionen möglich sind, sondern nur noch erregtes, auf Polarisierung zielendes Beschimpfen und Diskreditieren der jeweils gegnerischen Position und Meinung. Das hat aus diskursanalytischer Sicht sehr viel damit zu tun, dass es einigen Diskursakteuren seit Jahren gelingt, diese öffentliche Debatte immer mehr auf ein ganz kleines Themenspektrum zu reduzieren. So wurde im vergangenen Bundestagswahlkampf medial nahezu kein anderes Thema behandelt als „Migration“. Das ist nicht unbedeutend, aber natürlich auch keineswegs das einzige und vermutlich eben auch nicht das wichtigste, das Menschen bewegt. Und genau darum ging es uns: Wir wollten aufspüren, was die Diskurswirklichkeit unserer Stadt jenseits der medialen Lautsprecher ausmacht – und es gemeinsam mit dem Theater hörbar machen.
Wie viele Studierende waren beteiligt und was war ihre Aufgabe?
Max Harbich: Wir sind neun Studierende und mussten uns zunächst einmal auf dieses etwas andere Lehr- und Forschungsprojekt einstellen. Die Besonderheit bei diesem Projekt ist ja, dass es zunächst gar keine klare Aufgabenverteilung und keinen vorgegeben Fahrplan gab, sondern nur das Ziel. Wir mussten also erstmal erarbeiten, wie wir vorgehen, wie sich das theoretisch und methodisch begründen und natürlich dann auch als Bühnentext umsetzen lässt. Es wurde diskutiert, wen wir befragen, wie wir befragen, was wir fragen und wie wir mit den Texten hinterher umgehen. Wir haben uns dann uns für ein zweigleisiges Vorgehen entschieden, indem wir sowohl gezielt vereinbarte biografische Interviews als auch Straßeninterviews geführt haben. Aus den Transkripten sollte ja dann der aufführbare Text werden. Diese Textarbeit war der schwierigste Teil unserer Arbeit. Immerhin besteht das Material aus 535 Transkript-Seiten! Daraus möglichst viele Stimmen zu gewinnen und etwas Schlüssiges zu machen, war eine große Herausforderung.
Und wie kam das Theater ins Spiel? Was waren Ihre Aufgaben im Projekt, Frau Enders?
Katrin Enders: Wir sind ja aktuell noch mittendrin in der gemeinsamen Arbeit, denn die Veranstaltung findet ja erst am 12. Juni statt. Der erste Schritt für mich war das Lesen des wirklich umfangreichen Interviewmaterials. Dann haben wir zwei Arbeitsgruppen gebildet, eine für die biografischen und eine für die Straßeninterviews. Für letztere habe ich die Studierenden gebeten, Zitate von größtmöglicher Bandbreite herauszusuchen. Daraus entsteht gerade eine Collage, unser „Stimmengewitter“. Die biografischen Interviews dagegen haben wir nach wiederkehrenden Themen untersucht und daraus Typen „gebastelt“, zum Beispiel den „Baustellenkritiker“, aber auch den „Nostalgiker“ und andere.
Wie viele Magdeburgerinnen und Magdeburger wurden denn eigentlich befragt und wann fanden diese Interviews statt?
Max Harbich: Wir haben 15 geplante ausführliche Interviews mit ausgewählten Personen und 47 spontane Interviews mit Passantinnen und Passanten an verschiedenen Stellen in der Stadt geführt. Das war im Zeitraum von Juli bis Oktober des vergangenen Jahres, also sogar noch vor dem Wintersemester, in dem das Seminar offiziell angeboten wurde.
War es herausfordernd, Antworten von den Menschen zu bekommen?
Max Harbich: Wir haben da ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Herausfordernd war vor allem, dass wir die Leute so wenig wie möglich durch Fragen beeinflussen wollten. Wir haben versucht, die Menschen lediglich dazu anzustoßen, uns von sich und ihren Themen zu erzählen. Dadurch gab es schon auch das ein oder andere Interview, das zunächst nicht so in Gang kam. Insgesamt hat uns aber überrascht, wie bereitwillig und viel uns die Menschen erzählten. Das war eine spannende Erfahrung, die wichtig war für unser Projekt.
Inwiefern sind aus den Interviews dann Texte entstanden? Haben die Studierenden diese Texte geschrieben?
Kersten Sven Roth: Das kommt darauf an, was Sie unter „geschrieben“ verstehen. Das, was an dem Abend von Schaupielerinnen und Schauspielern des Theaters hörbar gemacht wird, stammt ausnahmslos aus den Interviews. Aber die Idee war von Anfang an, mit diesem Material sehr frei und kreativ zu arbeiten. Das ist natürlich nicht das typische Handwerk von Linguisten, weswegen es so wichtig und fruchtbar war, dass in diesem Teil des Projekts vor allen Dingen Katrin Enders die Federführung übernommen hat.
Wie kann ich mir die Veranstaltung im Juni vorstellen? Handelt es sich um ein Theaterstück oder was werden die Zuschauer dort erleben?
Katrin Enders: Nein, es handelt sich nicht um ein Theaterstück. Das habe ich von Anfang an betont. Das schließt aber weder theatrale Mittel noch einen Unterhaltungswert aus. Ich werde dort zunächst mit einigen der beteiligten Studierenden über ihre Erfahrungen während des Projekts sprechen. Das hat durchaus auch anekdotischen Charakter. Danach werden die Texte von Schauspielerinnen und Schauspieler vorgetragen. Das ist natürlich der Kern der Veranstaltung und ich bin sehr glücklich, dass uns dafür fünf Leute aus dem Ensemble zur Verfügung stehen. Last but not least wollen wir mit dem Publikum in den Austausch kommen, gern auch bei einem Getränk.
Warum eigentlich der Titel „Dies, das, Ananas“?
Katrin Enders: Zunächst hieß das Ganze Diskursräume. Das lag bei Projektbeginn insofern nahe, weil wir eben genau das wollten: Diskursräume öffnen. Für einen Veranstaltungstitel im Theater klingt das aber recht akademisch, und so sind die Diskursräume in die Unterzeile gewandert, mit dem Zusatz Stimmen aus Magdeburg. Für den Titel haben die Studierenden Zitate aus dem Interviewmaterial vorgeschlagen, und Dies, das, Ananas hat das Rennen gemacht. Diesen Spruch kennen viele, er garantiert Themenvielfalt und hat Humor.
Vielleicht ein kleiner Spoiler: Was sind denn Themen und Diskurse, die die Magdeburgerinnen und Magdeburger bewegen?
Max Harbich: Wir wollen natürlich nicht zu viel verraten, aber so viel kann man schon mal sagen: Über die Verkehrssituation in der Stadt haben die Menschen in Magdeburg so einiges zu sagen…
Gab es denn Themen oder Momente, die Ihnen begegnet sind und die Sie überrascht haben?
Marx Harbich: Eine Menge: Beim Lesen der Interviews fiel uns immer wieder auf, wie vielschichtig die Menschen über Magdeburg und das Leben hier nachdenken. Es finden sich die unterschiedlichsten Themen und Lebenswelten in der Stadt und was die Menschen wirklich bewegt, ist wirklich mehr, komplexer und diverser als die Schlagzeilen implizieren. Am Ende fiel es uns schwer zu akzeptieren, nicht noch mehr unserer gesammelten Stimmen auf der Bühne Raum geben zu können.
Was würden Sie sagen: Was waren die wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Projekt?
Kersten Sven Roth: Für mich ist das nicht zuletzt die Erfahrung, wie Gewinn bringend für eine Kultur- und Sozialwissenschaft wie die Linguistik der Austausch und das Zusammenwirken mit Institutionen aus dem künstlerischen Bereich wie in diesem Fall dem Theater ist. Wir hatten das gehofft, aber es war natürlich auch ein Experiment. Was die im engeren Sinne wissenschaftlichen Erkenntnisse angeht, könnte ich hier weit ausholen. Ich will es aber auf die beiden für mich wesentlichsten Punkte beschränken. Zum einen: Es hat sich bestätigt, dass die Diskursthemen und -perspektiven, die für die Magdeburgerinnen und Magdeburger tatsächlich wichtig sind und die Welt ausmachen, in der sie leben, in der Summe ganz andere sind, als das medial und politisch abgebildet ist. Das ist auch linguistisch betrachtet ein Auftrag, sich stärker um Methoden zu bemühen, die diese tatsächlichen Diskursstrukturen abbilden. Und zum anderen zeigt das Material ganz unabhängig vom diskurslinguistischen Interesse, wie großartig Menschen ihr eigenes Leben und ihre Sicht auf die Welt in Sprache fassen können, wie sie regelrecht Geschichten gestalten und – unter Umständen ganz aus dem Stand – Dinge formulieren, die auch hinsichtlich ihrer sprachlichen Form wirklich Juwelen sind.
Sind noch weitere Kooperationen geplant?
Katrin Enders: Auch wenn der Arbeitsaufwand nicht zu unterschätzen war, kann ich jetzt schon sagen, dass mir das Projekt großen Spaß gemacht und meinen Erfahrungshorizont erweitert hat. Wenn auch das Publikum die Veranstaltung mit einem Mehrwert verlässt, sind dafür schon mal gute Voraussetzungen gegeben.
Kersten Sven Roth: Da kann ich mich nur anschließen. Für die Studierenden, aber auch für meine Kollegin, Kathrin Hamann, und mich, die das Projekt von Seiten der OvGU durchgeführt haben, war das eine sehr fordernde, aber auch unglaublich anregende Zusammenarbeit. Ich möchte mich da auch mal ganz herzlich beim Theater Magdeburg, das nicht zuletzt mit den Spieler:innen wirklich wertvolle Ressourcen beisteuert, und vor allem auch ganz persönlich bei Katrin Enders bedanken. Ich sage mal so: Wir werden ganz sicher nicht Nein sagen, wenn sich weitere Kooperationsmöglichkeiten ergeben.