DE   |   EN
Die Akzeptanz für erneuerbare Energien ist grundsätzlich sehr hoch. (Foto: Shutterstock / Ostseefotograf)
30.11.2022 aus 
Forschung + Transfer
Wind of Change

Die Nachricht kam im August: Im Juli 2022 starben laut Statistischem Bundesamt gut 9.000 Menschen mehr in Deutschland als im Mittel der Jahre 2018 bis 2021. Als Hauptgrund dafür gilt die außergewöhnliche Sommerhitze mit Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius. „Wir sind in Deutschland auf längere Perioden mit hohen Temperaturen nicht gut eingestellt“, sagt die Umweltpsychologin Prof. Dr. Ellen Matthies. „In Hitzewellen steigen die Sterberaten sofort deutlich an.“

Mit der Hitze des vergangenen Sommers stiegen nicht nur die Todesraten. Die hohen Temperaturen und der fehlende Niederschlag ließen auch Wälder brennen, Bäche austrocknen, legten die Binnenschifffahrt stellenweise lahm und brachten hohe Ernteverluste. Der Klimawandel ist hier und heute spürbar. Ellen Matthies treibt die Frage um, wie Menschen als Individuen und die Gesellschaft als Ganzes darauf angemessen reagieren können. Die Forscherin weiß: Auf uns kommen große Transformationsprozesse zu – darunter etwa die Energiewende mit einer Abkehr von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien.

Die Akzeptanz wächst mit der Erfahrung

Wenn Deutschland die selbst gesteckten Klimaziele erreichen und bis zum Jahr 2045 klimaneutral sein möchte, müssen Windkraft und Photovoltaik viel rascher und umfassender ausgebaut werden als bisher. Wie die Energiewende gelingen kann, untersucht Ellen Matthies im Projekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS), einer Initiative der drei Wissenschaftsakademien acatech, Leopoldina und Akademienunion. Mehr als 100 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Forschung ordnen das vorhandene Wissen zur Energieforschung ein und bereiten es für die gesellschaftliche und politische Debatte auf, um Lösungsoptionen für eine nachhaltige, sichere und bezahlbare Energieversorgung zu entwickeln. Ellen Matthies ist Co-Leiterin der Arbeitsgruppe „Beschleunigter Ausbau von Windenergie und Photovoltaik“ und lotet gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Fachrichtungen aus, welche Barrieren einem schnellen Ausbau im Weg stehen und wie diese überwunden werden können. Kürzlich wurde die entsprechende Stellungnahme mit zwölf konkreten Handlungsoptionen veröffentlicht, die dem Ausbau mehr Schwung verleihen sollen.

Portrait Prof. Ellen Matthies (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgDie Umweltpsychologin Prof. Ellen Matthies untersucht, wie die Energiewende schneller gelingen kann. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

„Grundsätzlich ist die Akzeptanz für erneuerbare Energien hoch“, betont die Umweltpsychologin. Den Ausbau von Photovoltaik befürworten etwa 80 Prozent der Bevölkerung, bei Windkraft sind es knapp 70 Prozent und bei Biogas zwischen 50 und 60 Prozent. Wenn Anwohnerinnen und Anwohner aber gefragt werden, ob sie den Bau von Anlagen für erneuerbare Energien in ihrem direkten Umfeld befürworten, sinkt die Akzeptanz. „Psychologisch gesehen ist es besonders stressend, das Gefühl zu haben, dass man die Belastung tragen muss, aber andere davon profitieren“, erklärt Ellen Matthies. Die Bevölkerung fühle sich dann ungerecht behandelt und ausgebeutet. Die Folge: Es gibt Klagen, lokale Initiativen mobilisieren gegen die Vorhaben und die Planungen ziehen sich in die Länge. „Klagen sind zwar nicht die Regel, aber so eine Konstellation sollte nicht passieren“, betont die Wissenschaftlerin. Die Daten der Forschenden zeigen aber auch, dass dort, wo bereits Anlagen existieren, die Akzeptanz durch die Anwohnenden viel höher ist und die gesamtgesellschaftlichen Ausgangswerte sogar übersteigt. Die Angst vor der erwarteten Belastung – wie etwa Lärm durch Windräder – sei also höher, als es die tatsächlichen Auswirkungen der Anlagen sind, erklärt Matthies.

„Aus den großen Studien, die wir haben, gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, so etwas wie eine Abstandsregelung von einem Kilometer von Windkraftanlagen zu Wohngebäuden zu unterstützen“, so Matthies. In der Stellungnahme empfiehlt das Expertenteam daher, mehr Flächen für den Ausbau auszuschreiben und das Flächenziel von zwei Prozent der Landesfläche gesetzlich zu verankern. Eine frühere und stärkere Bürgerbeteiligung und eine Transformation der Planungs- und Genehmigungsprozesse seien außerdem notwendig, um die Erneuerbaren rasch auszubauen, halten die Forschenden in ihrer Stellungnahme fest. „Die Akteure mit dem größten Wissen in den Planungsverfahren sind heute meist die Projektierer“, beschreibt Ellen Matthies die Situation. Naturgemäß haben diese aber ein Eigeninteresse an der Umsetzung der Projekte. Eine unabhängige Beratungskompetenz auf der Landesebene, die alle wichtigen Akteure frühzeitig einbindet, Bürgerversammlungen moderiert, Bedenken ernst nimmt und zur Klärung von Fragen mit technischem Hintergrundwissen beitragen kann, könnte Ängste entkräften, Klagen verhindern und die Verfahren beschleunigen. Das EU-Recht sieht zudem vor, dass Kommunen an den Anlagen beteiligt werden und so direkt davon profitieren. Dort, wo der Planungsprozess so unterstützt wird, werden die Vorhaben kaum abgelehnt.

Es geht nicht um Verzicht, sondern um Veränderung

„Dass der Klimawandel menschengemacht ist, ist seit über 30 Jahren bekannt“, sagt Ellen Matthies. Zu langsam und zu zögerlich reagieren Politik und Gesellschaft bisher darauf und schieben wichtige Entscheidungen vor sich her. „Vor den notwendigen Transformationen haben offenbar viele Menschen und Institutionen Angst. Es gibt ja viel zu verlieren, etwa in der Energie-, Auto- oder Lebensmittelindustrie“, erklärt Ellen Matthies das Zögern. Sie ist davon überzeugt, dass die sozialwissenschaftliche Perspektive notwendig ist, um die großen Transformationen und den Umbau der Gesellschaft so anzustoßen, dass auch nachfolgende Generationen auf der Erde ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen führen können.

Eine klimaneutrale Kreislaufwirtschaft, die Abkehr von fossilen Energien, eine veränderte Landwirtschaft, die etwa auf Agroforst setzt und mithilfe von Agri-PV auch auf Äckern Solarstrom produziert oder eine fleischärmere Ernährung – all das sind Konzepte für zukunftsfähige Wirtschafts- und Lebensweisen, die bei einigen Menschen Begeisterung auslösen, bei anderen jedoch für Skepsis und Unmut sorgen. Die Umweltpsychologin weiß: Es ist entscheidend, gute Kommunikationsstrategien zu entwickeln, damit Menschen die Herausforderung verstehen und Veränderungen unterstützen. Es gehe darum, nicht konfrontativ, sondern zielorientiert zu argumentieren, nicht zu verschrecken, sondern zu motivieren. „Transformationsprozesse betreffen alle Individuen, man muss Interesse und Verständnis dafür wecken, dass sich Produkte und Dienstleistungen wandeln werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um Verzicht, sondern um die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen und sie mitzutragen.“

Zwei Männer begutachten eine große Photovoltaikanlage (c) Shutterstock APChanelWenn Deutschland bis 2045 klimaneutral sein möchte, müssen Windkraft und Photovoltaik viel rascher und umfassender ausgebaut werden. (Foto: Shutterstock / APChanel)

Nur selten treffen Menschen Entscheidungen aus rationalen Gründen, die meisten reagieren aus dem Bauch heraus. Wieviel Energie verbrauche ich? Wie groß ist mein CO2-Fußabdruck? Was könnte ich machen, um ihn zu verkleinern? Diese Fragen stellen sich die Wenigsten. Einige kaufen sich bewusst ein Lastenrad, um auf das Auto verzichten zu können. Einige begreifen es als Challenge, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Doch Menschen verschieben Entscheidungen gern – aus Angst vor Verlusten. Ellen Matthies, die sich als Umweltpsychologin für die „großen Fragen unserer Zeit“ interessiert und „keine Lust auf Forschung im Elfenbeinturm“ hat, untersucht auch, welche Beratungsinstrumente Menschen benötigen, um die vorhandenen Informationen abzurufen und handlungsfähig zu werden. „Ich finde das Ringen um die beste Lösung gut, ich finde Dialoge gut, und ich finde Veränderungen gut – sonst wäre ich doch nicht an einer Universität. Es muss vorwärtsgehen, dazu kann Wissenschaft beitragen. Wir müssen als Gesellschaft doch immer in Bewegung bleiben und nach Lösungen suchen.“

In der Verpflichtung sieht sie dabei auch die Politik. Oft würden wichtige Entscheidungen aus Angst davor aufgeschoben, Menschen zu enttäuschen. „Politikerinnen und Politiker dürfen keine Angst haben“, fordert sie. „Sie müssen rational prüfen, was der beste Weg ist und diesen in die Diskurse tragen.“ Den Wählerinnen und Wählern auch unangenehme Entscheidungen zu vermitteln – genau das sei Aufgabe der Politik. Denn nur so könne die Bevölkerung Transformationen mittragen und mitgestalten! Menschen entscheiden sich dafür, einen eigenen Beitrag zu leisten, wenn sie wissen, dass ihr Handeln kollektiv Wirkung hat und einen wichtigen Unterschied macht.“

Guericke facts